Guantánamo: ein Symbol von Willkür
Der Schweizer Europaratsabgeordnete und Ständerat Dick Marty begrüsst die von US-Präsident Obama angekündigte Schliessung des "illegalen Gefängnisses" auf Kuba. Für ihn ist Guantánamo ein Zeichen einer willkürlichen und ineffizienten Anti-Terror-Politik.
swissinfo: Was soll mit den über 200 Gefangenen geschehen?
D.M.: Das ist ein grosses Problem. Es erinnert mich an eine Geschichte von Kafka. In Guantánamo werden Leute festgehalten, gegen die überhaupt keine Beweismittel vorliegen.
Es sind rechtlich gesehen also unschuldige Leute, die irgendwo verschleppt wurden – häufig von pakistanischen oder afghanischen Banden, die sie für 5000 Dollar an die CIA verkauften.
Mit der Zeit haben selbst die Amerikaner festgestellt, dass gegen diese Menschen nichts vorliegt. Mehrere dieser illegal Inhaftierten wurden in den letzten Jahren freigelassen.
Andere mussten in Guantánamo bleiben, weil sie in ihrer Heimat verhaftet und gefoltert würden. Diese Leute als Terroristen zu bezeichnen, ist nicht tolerabel.
Meiner Meinung nach ist es jetzt an der internationalen Gemeinschaft, eine humanitäre Lösung zu finden.
swissinfo: Die Schweiz und andere westliche Länder haben sich anerboten, Guantánamo-Häftlinge aufzunehmen. Handelt es sich hier nicht um ein rein amerikanisches Problem?
D.M.: Nein, überhaupt nicht. Für diesen Anti-Terror-Krieg, der von der Bush-Verwaltung auf die Beine gestellt wurde, haben praktisch alle Länder zusammengearbeitet, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität. Geduldet wurde dieses Vorgehen aber allemal. Jetzt ist eine kollektive Verantwortung gefragt.
swissinfo: Inwiefern hat die Schweiz den Anti-Terror-Krieg unterstützt?
D.M.: Die Schweiz hat CIA-Flugzeuge über ihr Gebiet fliegen lassen. Niemand wollte sich dafür interessieren, was mit diesen Flügen los war.
Wenn wir unserer humanitären Tradition treu sein wollen, müssen wir unsere Hilfe anbieten. Ich bin froh, dass der Bundesrat jetzt diesen Schritt getan hat.
swissinfo: Was geschieht mit den Häftlingen, die nicht freigelassen werden, weil gegen sie gravierende Verdachtsmomente bestehen?
D.M.: Hier wird die Obama-Verwaltung ein riesiges Problem haben. Denn wie sollen diese Leute rechtlich behandelt werden, wenn man weiss, dass die Beweise durch Folter und illegale Mittel gesammelt wurden? In jedem zivilisierten Land sind solche Beweise unbrauchbar.
swissinfo: Im November hat die Schweiz die Asylgesuche von drei Guantánamo-Häftlingen abgelehnt. Jetzt signalisiert sie plötzlich Bereitschaft. Ein Widerspruch?
D.M.: Man könnte sagen, dass zuerst eine Verwaltungsbehörde, nämlich das Bundesamt für Migration, entschieden hat, und jetzt die oberste politische Behörde eine Entscheidung getroffen hat.
Ich wäre froh gewesen, wenn man diese Entscheidung gleich am Anfang getroffen und nicht auf die neue US-Administration gewartet hätte.
Denn jeder Tag, der vergeht, ist ein Tag mehr, an dem unschuldige Menschen in einem illegalen Gefängnis sitzen. Wer ein bisschen ein Rechtsgefühl hat, sollte sich über diese Situation Gedanken machen.
swissinfo: Geht es auch um Schweizer Interessenspolitik im Zusammenhang mit der in Bedrängnis geratenen UBS und den laufenden Klagen in den USA?
D.M.: Ich glaube nicht, dass die Obama-Verwaltung ihre Meinung über die UBS-Geschichte plötzlich ändern wird, nur weil wir Ex-Gefangene von Guantánamo aufnehmen. Das Angebot ist sicher ein Zeichen des guten Willens, das von der neuen Regierung geschätzt wird.
swissinfo: Verschiedene Kritiker, darunter auch Kantone, warnen vor einer Aufnahme wegen einer möglichen Gefahr für die Schweiz. Besteht hier nicht ein Risiko?
D.M.: Nehmen wir an, ich wäre einmal infolge einer Verwechslung oder einer Fehldiagnose in einer psychiatrischen Anstalt gelandet. Und plötzlich sagen die Ärzte, «dieser Mann gehört nicht hierher, man muss ihn entlassen». Und ich komme raus. Dann sagen alle, ich sei verrückt und krank, weil ich in der Psychiatrie war.
Solche Reaktionen in einem Rechtsstaat finde ich unerhört.
swissinfo: Sie sehen also keine Risiken für die Schweiz?
D.M.: Wer kann denn glaubhaft machen, dass die Sicherheit der Schweiz oder der Kantone in Gefahr gebracht wird, wenn wir drei Leute aus Guantánamo aufnehmen?
An dieser Geschichte stört mich Folgendes: Würde es sich um drei Milliardäre aus Russland handeln, die der Beziehungen zur Mafia verdächtigt werden, würde man diese Leute aufnehmen.
swissinfo: Sie haben im Europarat dazu aufgerufen, endlich die Wahrheit über geheime CIA-Gefängnisse an den Tag zu legen. Ein Appell an den neuen US-Präsidenten oder an Europa?
D.M.: An alle. Ich glaube, Amerika hat schon einen wichtigen Schritt getan, indem es zugegeben hat, dass Guantánamo illegal ist und es illegale Geheimgefängnisse gibt, die man schliessen muss.
Den nächsten Schritt müssen die Europäer tun. Sie müssen zugeben, dass sie im Namen der Nato zusammengearbeitet haben. Alle Nato-Mitglieder haben ihren Anteil geleistet. Heute kann man nicht mehr mit Staatsgeheimnis operieren.
Alle Regierungen haben jetzt die Pflicht, die volle Wahrheit zu sagen oder zumindest nach ihr zu suchen. In einer Demokratie ist die Wahrheit das höchste Gut.
swissinfo: Welche Erwartungen setzen Sie sonst noch in den neuen US-Präsidenten im Zusammenhang mit der Terrorbekämpfung?
D.M.: Dass er den Terror effizient und sauber bekämpft und sich auch um die politischen Umstände kümmert, die diesen Terror begünstigen. In diesem Bereich erwarte ich eine reelle internationale Zusammenarbeit zwischen allen Ländern.
In der früheren US-Verwaltung wurden alle wichtigen Entscheide von der CIA getroffen – die anderen haben nur Beihilfe geleistet.
Zudem muss Amerika Mitglied des Internationalen Strafgerichtshofs werden. Bis jetzt haben sich die USA geweigert, wie auch Russland, China und Israel, diesem Abkommen beizutreten.
swissinfo-Interview: Gaby Ochsenbein
Am 11. Janauar 2002 wurden die ersten Gefangenen auf den US-Marinestützpunkt Guantánamo Bay auf Kuba gebracht.
Etwa 800 Gefangene wurden seit dem 11. Januar 2002 in Guantánamo in Gewahrsam gehalten.
Ende 2008 wurden noch immer gegen 250 Gefangene, Staatsbürger aus etwa 30 Ländern, in Guantánamo gefangen gehalten. 100 von ihnen stammen aus dem Jemen.
Rund 60 Gefangenen droht in ihren Heimatländern Verfolgung, Folter oder willkürliche Haft. Sie kommen aus Ländern wie China, Libyen, Russland, Syrien, Tunesien und Usbekistan.
Die Schweiz und zahlreiche andere westliche Staaten hatten das Lager Guantánamo seit Beginn als völkerrechtswidrig bezeichnet.
«Soll die Schweiz ehemalige Guantánamo-Häftlinge aufnehmen?» fragte swissinfo die Leserschaft zwischen dem 22. und 29. Januar 2009.
An der nicht repräsentativen Umfrage beteiligten sich 423 Personen.
Das Resultat: 124 (29%) sagten Ja, 271 (64%) Nein, 28 Personen (7%) waren unentschlossen.
1945: Geboren in Lugano
1975: Promotion als Jurist in Neuenburg
1975-1989: Staatsanwalt
1989-1995: Regierungsrat
1995: Wahl in den Ständerat für die FDP
Seit 1999: Europarat
Ab 2005: Präsidium der Rechts- und Menschenrechts-Kommission des Europarats
Von 2005-2007: Sonderermittler des Europarats zu umstrittenen CIA-Gefangenentransporten und geheimen Gefängnissen in Europa
10. November 2007: Menschenrechtspreis der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte
Seit Juli 2008: Berichterstatter des Europarats über den angeblichen Handel mit Organen im Kosovo.
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