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Helene Budliger-Artieda: «Zeitdruck ist die Falle Nummer eins»

Helene Budliger Artieda.
"Wir sind nur an Firmen interessiert, der Schweiz einen Mehrwert bieten", sagt Seco-Chefin Helene Budliger-Artieda über Firmen-Ansiedlungen in der Schweiz. Keystone / Christian Beutler

Helene Budliger-Artieda ist die oberste Handelsdiplomatin der Schweiz. "Es gibt Druck, aber wir nehmen uns die Zeit", sagt die Staatssekretärin über die Verhandlungen mit der EU.

SWI swissinfo.ch: Schweizer Auswanderer wie Louis Chevrolet oder César Ritz legten einst die Grundsteine zu ikonischen Marken. Sehen Sie auch aktuell solche Figuren?

Helene Budliger-Artieda: Ja, herausragende Schweizer Unternehmerinnen und Unternehmer gibt es überall auf der Welt, gerade auch im Kleingewerbe. In vielen Ländern, in denen ich gelebt habe, gab es einen sehr erfolgreichen Schweizer Metzger oder einen Schweizer Bäcker. Teilweise wurden sie mit neuen, hochwertigen Produkten sehr reich.

In Thailand zum Beispiel traf ich auf zwei jüngere Unternehmer, sie bauen Toiletten-Anlagen. Das ist nicht unbedingt, was man von einem Schweizer Unternehmen erwartet, aber sie sind damit sehr erfolgreich.

In Südafrika wiederum traf ich auf ETH-Abgänger, die einen Markt schufen mit neuartigen Materialien für den Hausbau, die auf das dortige Klima ausgerichtet sind. Sie zielen weder auf den Luxussektor noch auf den sozialen Bereich, sondern auf die untere Mittelklasse. Diese Schicht fällt in Südafrika durch das Raster. Viele können sich kein eigenes Haus leisten. Wer weiss, was aus diesen Namen werden könnte.

Sie ist weit gereist und hat es weit gebracht: Helene Budliger-Artieda trat 1985 als Sekretärin ins Schweizer Aussendepartement ein. Seit 2022 ist sie Staatssekretärin für Wirtschaft (Seco) und damit die höchste Wirtschaftsbeamtin der Schweiz.

Als Diplomatin war sie in Nigeria, San Francisco, Peru, Kolumbien, Südafrika und zuletzt Thailand stationiert. Heute ist sie verantwortlich für die Schweizer Aussenwirtschaftspolitik sowie für den Umgang mit Exporten und Sanktionen. In der Schweiz leitet sie die Gespräche mit Kantonen und den Sozialpartnern bezüglich der EU. Sie moderiert zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeber:innen, die um inländische Massnahmen für einen sicheren Lohnschutz ringen.

Erkennen Sie ein Muster, etwas typisch Schweizerisches, wenn Sie Schweizer Unternehmen im Ausland sehen?

Ja, sie sind entweder in der Qualität oder der Innovation an der Spitze, häufig in beidem. Die Schweiz muss generell mit Qualität und Innovation in den Wettbewerb einsteigen, denn wir können nicht über den Preis oder mit Massenanfertigung punkten.

Ein weiteres, ebenfalls typisch schweizerisches Merkmal ist, dass wir uns auf alle möglichen Seiten versichern. Das gilt in gewisser Weise auch für Firmen. In diesen unsteten Zeiten ist es ein Vorteil, dass unsere Unternehmen sehr vorausschauend agieren und entsprechend resilient sind. Wir haben das in der Pandemie gesehen, danach auch bei den Folgen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Schweizer Firmen zeigen konstant eine beeindruckende Resilienz.

Budliger
Budliger-Artieda mit dem Schweizer Wirtschaftsminister Guy Parmelin und dem indischen Industrieminister Piyush Goyal. @ParmelinG/X

Weil sie mit Reserven wirtschaften?

Oder einfach mit einem guten Gefühl für Risiken und Chancen, vielleicht auch einmal mit einem Verzicht auf Risiko. Was zudem auffällt: In aller Regel sind die Schweizer Unternehmen sehr nahe bei ihrem Geschäft.

Wie meinen Sie das?

Sie überzeugen mich durch ihre Nähe zur Belegschaft. Natürlich wollen auch Schweizer Unternehmen Geld verdienen. Dennoch gibt es ein hohes Mass an Verständnis dafür, dass sie in der Gesellschaft und für die Gesellschaft arbeiten. Sie wissen, was Fürsorgepflicht für ein Unternehmen bedeutet.

Aktuell unterstützt die Schweiz Unternehmen beim Markteintritt in die Ukraine. 500 Millionen Franken wurden dafür von der Entwicklungshilfe umgelagert. Finden sich genügend Firmen, die dieses Volumen schultern können?

Ohne Weiteres. Es gibt einige Schweizer Firmen, die bereits seit Jahren in der Ukraine sind und während des Krieges durchgehalten haben. Sehr wichtig ist zum Beispiel eine Fensterbauerin, die in der Ukraine geblieben ist. Wenn man deren Sicherheitsglas in Spitälern oder in Kindergärten einbauen kann, ist dies sehr sinnvoll.

Es gibt auch eine Baufirma, die in der Ukraine das grosse Bedürfnis nach Schutzbunkern bedienen kann. Bereits angelaufen ist ein Projekt, bei dem wir eine Firma unterstützen, die Zugschienen befestigt. Die Ukraine ist eine bedeutende Getreide-Lieferantin, und der Transport auf Schienen gewinnt wegen der schwierigen Lage um die Häfen an Bedeutung.

Dann profitieren also vor allem die Firmen, die in der Ukraine ausgeharrt haben?

Nein, für eine zweite Phase und wenn das Interesse der Ukraine da ist, denken wir auch an eine generelle Ausweitung auf Schweizer Lieferungen. Der Rechtsrahmen muss hier noch geschaffen werden. Seit bekannt ist, dass wir ein Instrument entwickeln, das auf Schweizer Unternehmen ausgerichtet ist, kommen auch neue Ideen von heimischen Firmen auf den Tisch. Ende Jahr ist eine Wirtschaftsmission geplant, bei der wir diese Firmen mitnehmen werden. Das Interesse daran ist gross.

Also haben Sie – im Gegensatz zu einigen Kritikern – kein Problem damit, dass Entwicklungshilfe-Gelder in die Schweizer Wirtschaftsförderung umgeleitet werden?

Das Ziel ist nicht, Arbeitsplätze in der Schweiz zu schaffen. Wichtig ist, dass die 500 Millionen Franken eine Entwicklungskomponente haben. Dieses Projekt wird sich deshalb nicht gross unterscheiden von unseren bisherigen Projekten in der wirtschaftlichen Entwicklungszusammenarbeit. Wir sind es gewohnt, sehr sorgfältig zu schauen, dass wir Rahmenbedingungen schaffen, die zu lokalen Arbeitsplätzen führen. Der Mehrwert soll möglichst vor Ort passieren.

Übergeordnet muss man auch sehen, dass in nächster Zeit sehr viel Geld in die Ukraine fliessen wird. Die dortigen Behörden werden kaum die Kapazitäten haben, diese Menge sinnvoll zu absorbieren. Daher bin ich überzeugt, dass sich die 500 Millionen Franken, die wir in Zusammenarbeit mit den Unternehmen einsetzen werden, sehr gut vertreten lassen. Auch in Bezug auf die Nachhaltigkeit: Eine Firma wird vor Ort bleiben, wenn die Restrukturierungsprogramme abgeschlossen sind.

Was macht sie da so sicher?

Die Schwelle ist der Markteintritt. Ist er geschafft, bleiben die meisten. Klar ist aber auch: Eine Firma wird im Moment nicht von sich aus in die Ukraine gehen. Wenn sie aber eine Versicherung hat, sieht es anders aus. Was wir nun bieten, ist eine Art Versicherung, keine klassische, sondern eine in Form einer Bestellung.

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Kehren wir die Perspektive um: Wie attraktiv ist der Standort Schweiz für ausländische Unternehmen?

Er ist attraktiv, aber ich pflege Ministerinnen und Ministern im Ausland stets zu sagen, dass wir auch Produktionsstätten bei ihnen bauen können. Denn wo würden wir in der Schweiz zum Beispiel noch einen grossen Industriepark eröffnen können? Uns fehlt Land, uns fehlen Leute. Die Schweizer Bevölkerung spürt den Dichtestress. Wir sind noch nie so lange in Staus gestanden wie heute.

Braucht die Schweiz also keine ausländischen Firmen mehr?

Sie wissen, dass wir in der Schweiz Vollbeschäftigung haben. Wir sind nur an Firmen interessiert, die hohe Qualität produzieren, innovativ sind und gute Arbeitsstellen schaffen. Kurz: die der schweizerischen Volkswirtschaft einen Mehrwert bieten. Wenn sonst jemand kommt und zum Beispiel noch ein Nagelstudio eröffnet, stört mich das nicht. Wir sind ein freies Land. Aber es ist nicht das, was uns strategisch weiterbringt. Was wir hingegen nicht wollen, sind Briefkastenfirmen.

Seit Jahren ungelöst ist das EU-Dossier, auch wenn es für die Schweizer Wirtschaft von grosser Bedeutung ist. Sie spielen im Inland seit 2022 eine zentrale Rolle und gelten inzwischen als die engagierteste Figur in diesem Dossier…

…das ist übertrieben, unser Chef-Unterhändler Patric Franzen zum Beispiel macht fantastische Arbeit. Er arbeitet Tag und Nacht für dieses Dossier. In vielen Departementen setzen sich engagierte Leute dafür ein, dass die Verhandlungen mit der EU zu einem guten Ergebnis führen.

Aber jemand muss die Knochenarbeit im Inland machen – und das sind Sie.

Ja, aber auch die mache ich nicht allein. Das Staatssekretariat für Wirtschaft Seco hat in verschiedenen Prozessen eine Rolle, die wir gerne einnehmen und auch engagiert machen.

Kommen Sie dabei weiter? Etwa mit den Gewerkschaften?

Wir reden von den Sozialpartnern, denn es sind ja auch die Arbeitgebenden dabei. Der Prozess läuft gut, aber er ist sehr komplex. Wir wollen den Unterhändlerinnen und Unterhändlern möglichst gute Argumente liefern und versuchen, uns positiv in den Verhandlungsprozess einzubringen. Wir schauen also, was wir innenpolitisch an Kompensationsmassnahmen schaffen müssen, damit wir mit Brüssel in den vereinbarten Landezonen bleiben.

Hat die Schweiz genügend Zeit für diese Verhandlungen im Inland?

Was heisst Zeit?

Die Zeit, welche die Sozialpartner brauchen, um innenpolitisch zu einer Lösung zu finden. Gerade im Inland gibt es seit Jahren keinen Fortschritt – und von aussen macht Brüssel Druck.

Ja, es gibt einen gewissen Druck. Bei Horizon hat unsere kluge Verhandlungsführung aber inzwischen zu einer ersten Erleichterung geführt, doch wir sind noch nicht am Ziel. In der Medtech-Branche haben die Schweizer Unternehmen höhere administrative Aufwände und Kosten, weil die gegenseitige Anerkennung trotz gleichwertigem Recht nicht mehr funktioniert.

Umgekehrt liefern EU-Hersteller, aufgrund vergleichbarer Kosten, gewisse Produkte nicht mehr in die Schweiz. Ein zügiges Fortschreiten ist also auch im Interesse der Schweiz. Und zugleich werden die Gespräche mit den Sozialpartnern intensiv fortgeführt.

Dann steht also der Fahrplan für ein neues Abkommen mit der EU?

Die Prämisse des Bundesrates ist: Wir nehmen uns die Zeit, die wir brauchen. Zeitdruck ist die Falle Nummer eins in jeder Verhandlung. Der Termin darf nicht wichtiger sein als die Qualität des Resultats. Es geht um unsere Interessen, nicht nur um den Lohnschutz, sondern unter anderem auch um die Zuwanderung, die für uns heikel ist.

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