Islam Alijaj: Der Steve Jobs einer «Behinderten-Revolution»?
Der Zürcher SP-Nationalrat hat Cerebralparese und ist der erste Parlamentarier mit albanischem Hintergrund. Angetreten ist Islam Alijaj mit dem selbstbewussten Slogan "Geschichte schreiben". Ein Porträt.
Der neue Nationalrat Islam Alijaj hat es eilig. «Für mich war immer klar, dass ich keine Zeit verlieren darf, wenn ich gewählt werde.»
Andere neue Parlamentarier:innen gönnen sich eine Eingewöhnungsphase. Er, der Cerebralparese hat und darum von seinem Körper daran gehindert wird, so schnell zu sprechen, wie er denkt, hat bereits in der ersten Parlamentssession eine Motion eingereicht und der Regierung mehrere Fragen gestellt.
Die Fragen und die Motion drehen sich um das Behindertengleichstellungsgesetz, welches die Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen im öffentlichen Verkehr, Gebäuden und im Arbeitsmarkt regelt.
Folgt man Alijaj sind Menschen mit Behinderungen nicht nur wegen ihren Einschränkungen in allen Lebensbereichen eingeschränkt, sondern auch wegen einer Gesellschaft, die Schwellen errichtet. Ob Bildungs-, Verteidigungs- oder Finanzpolitik: Überall findet er Anknüpfpunkte zur Behindertenpolitik.
Menschen mit Behinderungen in der Fünften Schweiz
Auch im Hinblick auf die Fünfte Schweiz nennt Alijaj Themen der Behindertenpolitik. Zwar können Schweizer:innen mit einer ordentlichen IV-Rente in der Regel auswandern. «Eine ausserordentliche IV-Rente verliert man aber. Die Ergänzungsleistungen und die Hilflosenentschädigung kann man ebenfalls nicht exportieren, geschweige denn die Assistenzbeiträge.»
Selbst denkt Alijaj nicht ans Auswandern. «In Zürich kommt es manchmal vor, dass ich vergesse, dass ich behindert bin.» Noch nicht mal einen Umzug in ein anderes Quartier könne er sich vorstellen.
Das Aufwachsen in Zürich sei seine Rettung gewesen. «Die Stadt ist weltoffen einerseits und leistungsorientiert andererseits. Diese beiden Werte haben mir gutgetan.»
Der erste Schweizer Nationalrat aus der albanischen Diaspora
Wäre er auf dem Land oder im Kosovo, wo Alijaj geboren ist, aufgewachsen, hätte er nicht werden können, wer er ist. «Wenn ich nach Kosovo gehe, fühle ich mich sehr behindert.»
Der kosovarische Premierminister Albin Kurti hat Alijaj über X/Twitter zur Wahl gratuliert – und Alijaj ist stolz, die albanische Diaspora als erster im Schweizer Parlament zu repräsentieren. Trotzdem werde er auch Kritik an der Inklusion im Kosovo ausüben, wenn Kurti ihn bald offiziell empfange.
Alijaj hält sich nicht zurück. «Die Sichtweise von Menschen mit Behinderungen wird auch von den linken Parteien immer vergessen», sagt Alijaj, der als Sozialdemokrat einer linken Partei angehört.
Im vergangenen Oktober zogen 56 neu gewählte Vertreterinnen und Vertreter ins nationale Parlament ein. Die Schweizerische Volkspartei, die Mitte und die Sozialdemokratische Partei haben bei den eidgenössischen Wahlen 2023 am meisten zugelegt und stellen auch die meisten Neulinge im Parlament. Die Grünen haben – als die grossen Verlierer der Wahlen – keine neuen Gesichter nach Bern schicken können.
In dieser Serie porträtiert SWI swissinfo.ch neun Parlamentarierinnen und Parlamentarier, die ihre ersten Schritte in der nationalen Politik machen.
Teil einer «Behindertenrevolution»
Seit Jahren schlage er «Löcher in eine Wand». Jede Äusserung, jede Motion, jeder Auftritt soll ein weiteres Loch setzen hin zu einer Gesellschaft, die Menschen mit Behinderungen gleichstellt. «Ich bin angetreten, um eine Behindertenrevolution anzustossen. Bei uns Menschen mit Behinderungen hat sich eine Wut angestaut, die sich letztes Jahr entladen hat.»
Die Wut habe ihren Ausdruck gefunden in seiner Wahl. Im neuen Parlament sind nun drei Menschen mit Behinderungen vertreten.
Die Wut habe ihren Ausdruck gefunden in der ersten Behindertensession, wo 44 Menschen mit Behinderungen im Nationalratssaal eine Resolution erarbeitet haben.
44 von 200: Das wäre der rechnerische Anteil von Parlamentarier:innen mit Behinderungen bei den 22% Menschen mit Behinderungen in der Schweizer Bevölkerung.
Am konkretesten fand die Wut der «Behindertenrevolution» ihren Ausdruck vor der SBB: 20 Jahre hatten die Schweizer Verkehrsunternehmen Zeit Bus- und Bahnstationen barrierefrei auszugestalten. «Die SBB hat in 10 dieser 20 Jahre einfach geschlafen», sagt Alijaj. Die Frist ist am 1. Januar ausgelaufen – und nur 60% der Bahnhöfe sind barrierefrei. Ende Januar protestierten Menschen mit Behinderungen vor dem SBB-Hauptsitz. Alijaj rechnet damit, dass es der erste Protest von vielen sein wird. Die Wut bleibt.
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Alijaj hält sich entsprechend nicht in einzelnen Parlamentsgeschäften auf. Dass Andere seiner ersten Motion wenig Chancen einräumen, kümmert ihn wenig. Er denkt in grossen Linien. Wie Steve Jobs.
Ja, Steve Jobs: Der Apple-Gründer aus dem Silicon Valley ist das Idol von Islam Alijaj, des Sozialdemokraten aus Zürich. Wäre der 37-jährige Familienvater einfach ein junger Parlamentarier, könnte man das belächeln.
Doch Alijajs Erzählung ist eben die eines Politikers, der von der Sonderschule bis zur SP-Versammlung, die über die Listenplätze entschieden hat, immer unterschätzt worden ist – und der trotzdem an einer Vision arbeitet. «Geschichte schreiben», war sein Wahlslogan.
Wahlkampf mit Werbeprofis und grossem Budget
«Von der Frauenbewegung habe ich gelernt, dass Vermögen eine Bedingung für Unabhängigkeit ist», sagt Alijaj. Menschen mit Behinderungen, die ihr Leben lang im zweiten Arbeitsmarkt arbeiten, hätten keine Möglichkeit Vermögen anzusparen.
Wer – wie es viele tun – neben der Invalidenversicherung zum finanziellen Auskommen noch Ergänzungsleistungen bezieht, hat keine berufliche Altersvorsorge über die Pensionskasse und kann schon gar nicht mit einer Dritten Säule privat vorsorgen.
Auf seinem Wahlplakat reisst Alijajs Kopf ein Loch in rotes Papier. Das Sujet war gross im rechten Wochenmagazin «Weltwoche» abgedruckt, dort mit dem Spezialslogan «Islam in den Nationalrat». Eine Provokation in einem Magazin, das schon lange vor einer angeblichen Islamisierung der Schweiz warnt. Ein bekannter Werber hat die 20’000 Franken für das Inserat selbst bezahlt.
Alijajs Wahlkampf wurde von David Wember, Kampagnenchef der traditionsreichen Agentur Farner, konzipiert. Und der Wahlkampf hat gekostet: Mit rund 200’000 Franken war es der teuerste aller SP-Kandidat:innen.
Die grössten Einzelbeiträge stammten vom Familienunternehmen der Alijajs und der Behindertenorganisation Pro Infirmis. Allerdings habe er auch 70’000 Franken von Kleinspender:innen gesammelt. Und die Unterstützer:innen von Alijaj haben mehr getan als Geld zu überweisen: Alijaj spricht von einem Netzwerk von «hunderten Menschen», die für ihn Flyer verteilten und Plakate aufhängten.
Logistik und Rhetorik eines Profis
Wember, den Alijaj «den Kopf hinter meinem Wahlkampf» nennt, sagte in einem Interview, Profis würden nie über Strategie, sondern immer über Logistik sprechen. Alijaj ist ein Profi – das merkt man an der Übersicht, die er über die «Behindertenrevolution» und seine Rolle in ihr hat. Man merkt es aber auch an seiner Rhetorik.
Seine Assistentin Gloria Fischer wiederholt Wort für Wort deutlich und laut in der Ich-Form, weil die Aussprache wegen der Cerebralparese zwar undeutlich ist. Doch Alijaj verwendet kein Wort zu viel und seine rhetorischen Kniffe sind gut gesetzt.
Wenn Alijaj sagt, in einem Land mit Minarettverbot sei die Wahl eines Muslims mit dem Vornamen Islam nicht vorgesehen, hat er wohl recht. Doch das grosse Projekt, für welches Alijaj «Löcher in die Wand» schlägt, ist die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen.
Die Wut habe ihren Ausdruck gefunden mit der Inklusionsinitiative, die anstelle eines Diskriminierungsschutzes eine Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen fordert. Alijaj sitzt im Komitee. Die Idee sei seine gewesen. Das Komitee versammelt Politiker:innen von links bis rechts.
Viel Lob vom Parlamentskollegen aus der SVP
Einer von ihnen ist der Solothurner SVP-Nationalrat Rémy Wyssmann, der viele positive Worte für den Sozialdemokraten Alijaj findet. Alijaj halte Versprechen ein, gehe «sorgsam mit anvertrauen Steuer- und Beitragsgelder» um – und habe als einer von wenigen «Politikern aus dem linken oder staatsnahen Spektrum» ein Verständnis für die Anliegen von kleinen Unternehmen.
Wyssmann führt das auf Alijajs familiären Hintergrund zurück: Seine Familie führt einen Reinigungsdienst mit rund 30 Mitarbeitenden.
Bereits hat Alijaj als Nationalrat eine Parlamentarische Initiative von Wyssmann unterzeichnet. Die fordert, dass «Steuerzahlerinnen und Steuerzahler» von Behörden ohne bürokratische Hürden ihre Steuerakten zugestellt bekommen. Alijaj ist der einzige linke Unterzeichner. Wyssmann sagt: «Er hat keine Berührungsängste. Er ist bodenständig, direkt und nicht abgehoben.»
«Scheininvaliden»-Schlagwort habe «alles vergiftet»
Alijajs Brüder sind FDP-Wähler. Im Parlament und ausserhalb könne er gut mit Bürgerlichen zusammenarbeiten – auch mit solchen aus der SVP.
Vor 20 Jahren aber, als es um die IV-Revision gegangen ist, habe eine SVP-Kampagne, in der die Partei von «Scheininvaliden» sprach, «alles vergiftet». «Die Kampagne hätte nie stattfinden können, wenn wir Menschen mit Behinderungen zahlreich in der Politik aktiv geworden wären.» Eine solche Rhetorik funktioniere nicht, wenn man den Menschen mit Behinderungen in die Augen schauen müsse. «In den Abstimmungsdebatten zur Inklusionsinitiative wird uns die SVP nicht ins Gesicht sagen, wir seien Kostenfaktoren, wie es die Partei früher dargestellt hat. Das wird nie passieren.»
Lange habe man Menschen mit Behinderungen nicht ernstgenommen. Alijaj sieht die Ursache auch in Kampagnen von Behindertenorganisationen, die auf Mitleid gesetzt haben. «Oh schaut die armen Behinderten – dieser Stil.» Darum habe er in seinem Wahlkampf «von Anfang bis Schluss auf Stärke gesetzt».
Ein untypischer Sozialdemokrat
Alijaj kann mit allen politischen Lagern zusammenarbeiten. Er eckt aber auch in alle politischen Richtungen an. Der gelernte Kaufmann findet, dass die Berufslehre wieder gestärkt werden müsse. «Wir können nicht alle Akademiker:innen werden. So viele wissenschaftliche Mitarbeitende braucht es nicht.» Wenn man ihm entgegnet «Von Sozialdemokrat:innen hört man das sonst nicht», lächelt Alijaj.
Man werde von ihm noch einiges hören, was ein Sozialdemokrat nie sagt. «Das macht mich auch aus. Ich bin authentisch.»
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