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Islam-Debatte: «Man sieht nur, was man sehen will»

Werden von einer radikalen Minderheit übertönt: Bosnische Muslime in der Schweiz. Keystone

Momentan heizt der Islamische Zentralrat, dem vor allem konvertierte Schweizer angehören, mit seinen Forderungen die Islam-Debatte an. Die moderaten Muslime werden derweil kaum wahrgenommen. swissinfo.ch sprach darüber mit dem Bosnier Alic Nedzad.

Alic Nedzad flüchtete während des Bosnien-Krieges 1992 mit 12 Jahren mit seiner Familie in die Schweiz.

Der 30-Jährige war mehrere Jahre Leiter einer bosnischen Jugendorganisation und im Vorstand der bosnischen Moschee in Bern.

Seit 2003 ist er Chefredaktor der bosnischen Zeitschrift Swiss BiH, einer Austausch- und Integrationsplattform für Bosnier.

swissinfo.ch: Die grosse Mehrheit der Muslime in der Schweiz stammen aus Ex-Jugoslawien. In der öffentlichen Debatte ist ihre Stimme kaum zu hören. Weshalb?

Alic Nedzad: Viele Muslime aus Ex-Jugoslawien, die in der Schweiz leben, wurden aus ihrem Land vertrieben. Nach der Annahme der Minarett-Verbots-Initiative haben sie einmal mehr das Gefühl, nicht willkommen zu sein. Viele Bosnier haben Angst. Sie denken «Wer weiss, was als nächstes kommt?»

Für die meisten bosnischen Muslime ist zudem Religion etwas Privates, das nicht ihren ganzen Alltag bestimmt. Sie wollen deshalb damit nicht an die Öffentlichkeit gehen.

Es ist auch schwierig, die Exilgemeinschaft in der Schweiz zu vereinen, denn die Wunden des Jugoslawien-Krieges sind noch nicht verheilt.

Es gibt in der Schweiz keine kulturellen Zentren und Verbände, in denen sich Bosnier, also Kroaten, Serben und Bosnjaken, zusammen engagieren. Von daher kam auch die Idee der bosnischen Zeitschrift Swiss BiH. Ich wollte eine Plattform bieten, auf der sich alle Bosnier austauschen.

swissinfo.ch: Wer soll denn die moderaten Muslime vertreten, wenn nicht sie selbst?

A.N.: Meiner Meinung nach können sich die Muslime selbst gar nicht verteidigen. Diese Rolle müsste insbesondere der Bundesrat übernehmen.

Denn was nützt es, wenn unsere Aussagen in all den lauten und omnipräsenten Behauptungen untergehen? Man müsste einfach ganz klar im Gesetz festhalten, dass man andere Religionen nicht angreifen darf.

swissinfo.ch: In der Schweiz gibt es neben der Religionsfreiheit auch eine Meinungsfreiheit.

A.N.: Für mich ist es paradox: Anstatt die Diskriminierung einer Religion zu thematisieren wird etwa darüber gesprochen, ob ein Verbot von diskriminierenden Abstimmungsplakaten nicht den Grundsätzen der Demokratie widersprechen würde.

swissinfo.ch: Vor rund einem halben Jahr hat das Schweizer Volk die Minarett-Verbots-Initiative angenommen. Was hat sich für Sie seither verändert?

A.N: Für mich wurde mit der Abstimmung das Bild der multikulturellen Schweiz zerstört.

Ich habe den Krieg in Jugoslawien erlebt und kam mit 12 Jahren in die Schweiz. Ich hatte immer das Gefühl, in der Schweiz akzeptiert zu sein. Ich bin hier aufgewachsen, zur Schule gegangen und arbeite hier.

Ich fühle mich in der Schweiz gut integriert und bin hier zu Hause. Nein, dachte ich, vor der Abstimmung, «meine» Schweiz wird das nicht zulassen.

Es geht für mich um eine Art Vertrauensverlust: Man lebt mit Leuten zusammen, von denen man immer annahm, dass sie einen verstehen.

Ich machte nie ein Geheimnis daraus, dass ich Muslim bin. Ich sprach mit meinen Schweizer Kollegen über den Islam, feierte mit ihnen das Ende des Ramadan – und hatte immer das Gefühl, das sei alles in Ordnung.

Doch wenn mir heute jemand sagt, er habe keine Probleme mit anderen Religionen, dann bin ich mir da nicht mehr so sicher. Ich bin misstrauischer geworden, zweifle häufiger daran, ob Leute wirklich das sagen, was sie denken.

Es geht nicht darum, ob unsere Religion Minarette braucht oder nicht. Das Problem ist, dass man einfach eine Religion herauspickt. Das hat etwas Verachtendes.

Ich weiss, es ist ein gefährlicher Vergleich. Doch so hat es in Deutschland angefangen, man sagte, Juden seien schlecht und fing an, ihnen Dinge zu verbieten.

Nach der Abstimmung gab es unzählige Reaktionen in Swiss BiH. «Jetzt weiss ich, was sie über mich denken und dass ich in Gefahr bin», war da häufig zu lesen. Ich kenne zwei, drei Familien, welche die Schweiz deshalb mittlerweile verlassen haben.

swissinfo:ch: Können Sie die Ängste der Schweizer Bevölkerung nachvollziehen?

A.N.: Man spricht heute in der Schweiz viel davon, dass es mehr Aufklärung brauche. Auch in Bezug auf das Minarett-Verbot wird immer wieder die Entschuldigung vorgebracht, die Schweizer seien halt nicht genug informiert.

Doch meiner Meinung nach sind die Schweizer sehr aufgeklärt. Sie sind gebildet und haben genug Mittel, um sich ihre Meinung zu bilden. Und kaum ein Volk reist so viel wie die Schweizer, die muslimische Länder wie die Türkei oder Ägypten auch von den Ferien her kennen.

Weshalb öffnen sie nicht die Augen? Weshalb glaubt man der Propaganda der SVP mehr als seinen eigenen Erfahrungen? Man sieht halt immer nur das, was man sehen will.

Corinne Buchser, swissinfo.ch

In der Schweiz leben rund 400’000 Musliminnen und Muslime, das sind rund 5% der Schweizer Bevölkerung.

Damit sind sie die drittgrösste Religionsgemeinschaft in der Schweiz, hinter den Katholiken und den Protestanten.

Mit einem Anteil von 56,4% stellt die muslimische Gemeinschaft aus Ex-Jugoslawien die Mehrheit der Muslime in der Schweiz.

Rund 20% der Muslime in der Schweiz stammen aus Türkei, 11,7% sind Schweizer und 6% kommen aus Afrika, vor allem aus den Maghreb-Staaten.

Nur rund 15% der Muslime in der Schweiz praktizieren ihren Glauben und sind in religiös ausgerichteten Vereinen organisiert.

In der Schweiz gibt es vier Moscheen mit Minaretten, und zwar in Zürich, Genf, Winterthur und Wangen bei Olten.

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