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Jetzt ist das Parlament am Zug

Die Integration in die Arbeitswelt ist ein zentraler Punkt der Revision. Keystone

Das Schweizer Stimmvolk sagt deutlich Ja zur Sanierung der schwer verschuldeten Invalidenversicherung (IV). In der West- und Südschweiz war die Zustimmung jedoch etwas knapper.

Damit ist das Thema allerdings noch lange nicht erledigt. Nun beginnt bereits der Streit um die zusätzliche Finanzierung der angeschlagenen Versicherung.

Hauptziel der 5. IV-Revision ist die Reduktion des milliardenhohen Schuldenbergs des Sozialwerks. Es steht gegenwärtig mit über 9 Mrd. Franken beim Fonds der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV), über den es finanziert wird, in der Kreide. Ende Jahr könnten es sogar 11 Milliarden sein.

Dass diese Entwicklung so nicht weitergehen kann, war klar. Das Ja zur 5. IV-Revision ist denn auch eine klare Verpflichtung zur Schuldensanierung der Sozialversicherung.

Die Mehrheit der Bevölkerung ist der Meinung, dass dringend etwas unternommen werden muss, um das hohe Defizit der Invalidenversicherung zu sanieren.

Dies soll nun unter dem Motto «Eingliederung vor Rente» geschehen. Mehr Integration von Behinderten in den Arbeitsprozess und tiefere Renten sind die Losung der Revision.

Zudem dürfte das Argument, dass der Missbrauch des Sozialwerks eingedämmt werden soll, ebenfalls zahlreiche Ja-Stimmen auf sich gezogen haben. Dies, obwohl nur etwa ein Prozent Missbrauchsfälle nachgewiesen worden sind.

Ob die Bilderkampagne der Gegnerschaft, die mit «behinderten» Bundesräten auf Postkarten für ihre Anliegen Werbung machte, einen Einfluss hatte, ist nicht klar. Ansonsten wurde der Abstimmungskampf eher nüchtern geführt.

Arbeitgeber in der Pflicht

Ein Wermutstropfen bleibt allerdings: Für die Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess fehlen im Gesetz bindende Verpflichtungen der Arbeitgeber-Seite, für behinderte Menschen spezielle Stellen anzubieten.

Dies war eines der Hauptargumente der Gegner der Vorlage. Nun müssten Arbeitsplätze für die einzugliedernden Behinderten geschaffen werden, fordern die unterlegenen Gegner daher postwendend von den Arbeitgebenden.

Dies verlangen auch die Gewerkschaften. Sie fordern daher vom Bundesrat innerhalb von zwei Jahren ein Controlling, ob die Integration funktioniere oder ob sie «frommer Wunsch» geblieben sei.

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Invaliden-Versicherung

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Die Invalidenversicherung (IV) ist eine obligatorische Versicherung. Sie sichert den Versicherten die Existenzgrundlage, wenn sie invalid werden. Dies geschieht mittels Eingliederungsmassnahmen oder Geldleistungen. Die IV subventioniert auch speziell eingerichtete Institutionen. Die Versicherung wird zu rund 40% von Beiträgen der Erwerbstätigen und Arbeitgeber finanziert. Der Rest stammt aus öffentlichen Geldern.

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Westschweiz eher skeptisch

Skepsis gegenüber der Vorlage war in der Westschweiz zu spüren, und etwas schwächer auch im Tessin. Dieses Stimmverhalten liegt aber im üblichen Rahmen, wie es bei sozialpolitischen Vorlagen in diesen Landesteilen häufig beobachtet wird.

Die mit 36% geringe Stimmbeteiligung zeige, dass viele Unentschlossene nicht an die Urne gingen, sagte Politologe Claude Longchamp. Vermutlich hätten für viele die Argumente beider Seiten eine nüchterne Meinungsbildung erschwert.

Finanzierungsfrage offen

Klar nach dem Ja ist: Zumindest über befristete Zusatzeinnahmen muss nun nach dem deutlichen Auftrag zur Schuldensanierung des Sozialwerks dringend diskutiert werden.

Die Frage, ob für diese so genannte Zusatzfinanzierung allenfalls die Mehrwertsteuer erhöht werden soll, ist umstritten und bereits mehrmals im Parlament debattiert worden. Wegen parteipolitischen Ränkespielen bisher aber ohne Resultat.

Die Lösung der Schuldensanierung wird vermutlich noch für einigen Zündstoff sorgen. Die rechtsbürgerliche Schweizerische Volkspartei (SVP) forderte nach dem Ja am Sonntag umgehend eine 6. Revision der Versicherung. Erst danach sei man bereit, über eine Zusatzfinanzierung zu reden.

Die anderen bürgerlichen Parteien hingegen haben sich für die Bereinigung der Finanzierung ausgesprochen. Erst wenn Gewissheit über diese wichtige Frage herrsche, sei eine 6. Revision anzugehen.

In welche Richtung eine Lösung gehen wird, dürfte sich wohl erst nach den Nationalrats- und Ständeratswahlen im Oktober zeigen. Dann wird klar sein, welche Parteien zu den Siegern oder Verlierern gehören und welche Allianzen allenfalls neu geschmiedet werden.

swissinfo, Christian Raaflaub

59,1% Ja zur 5. IV-Revision
Höchster Ja-Anteil: 79,5%, Appenzell Innerrhoden
Tiefster Ja-Anteil: 45,4%, Jura
Stimmbeteiligung: 35,8%

Die IV hatte per Januar 2007 300’000 IV-Bezügerinnen und -Bezüger.

Dies entspricht knapp 5% der Bevölkerung, gegenüber 0,6% im Jahr 1960.

Das Jahres-Defizit belief sich 2006 auf 1,6 Mrd. Franken, der Schuldenberg der IV insgesamt auf über 9 Mrd. Franken.

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