Kein wahrer Sieger in Deutschland
Die Schweizer Presse beschreibt nach der Wahl ein Deutschland der Unsicherheit. Die Gründung einer Gross-Koalition scheint unausweichlich.
Für die Kommentatoren ist Angela Merkel, trotz ihrem rechnerischen Vorsprung, die wahre Verliererin.
Der deutsche Wahlkampf hat die Schweiz vielleicht nicht selber bewegt, aber stark interessiert. Am Wahlsonntag widmete sich Radio DRS noch um elf Uhr nachts mit einer Spezialsendung dem Resultat aus Berlin, und am Montagmorgen ist die von Bundeskanzler Schröder erzwungene vorgezogene Neuwahl auf fast allen Frontseiten der Schweizer Presse.
Nur das Lausanner Boulevardblatt «Le Matin» erlaubt sich, an Stelle von Angela Merkel oder Gerhard Schröder die neue Miss Schweiz, Lauriane Gillérion, von der ersten Seite strahlen zu lassen.
Gerade beide Grossereignisse fasst das Massenblatt «Blick» auf der Front zusammen: «Wir haben eine Miss… Deutschland zwei Kanzler.» Kanzlerin oder Kanzler, das ist die Frage: «Deutschland: Ringen um das Kanzleramt», titelt das Pendlerblatt «20 minuten».
Desaster für Kohls Mädchen Angela Merkel
Le Temps titelt: «Le Chancelier introuvable.» Für die Genfer ging das «Verlierer-Ticket» an die Eiserne Lady der CDU. «Merkel hat in ihrer Kampagne mehrere Fehler gemacht. Insbesondere ihre Ankündigung, die Mehrwertsteuer um zwei Punkte zu heben und die Nachtzuschläge zu besteuern.»
«La Liberté» aus Freiburg schreibt gar von der «L’humiliation d’Angie», der Demütigung Angies. «Sie hat vergessen oder war nicht fähig, die menschliche und soziale Komponente ihres Programms in die Waagschale zu werfen.»
Auch die «Basler Zeitung» konstatiert der CDU «ein Desaster für die Partei, vor allem aber für Angela Merkel». Für den «Corriere del Ticino» haben die beiden grossen Parteien an Glaubwürdigkeit verloren, während jene der kleinen Parteien gewachsen sei.
NZZ fordert Selbstauflösung des Bundestags
Für die «Neue Zürcher Zeitung» ist Merkel ebenfalls die «eigentliche Verliererin der Wahl», auch wenn sie immer noch gute Chancen habe, die erste Kanzlerin zu werden. Alles in allem trotzdem «Die schlechteste Wahl für Deutschland», wie die NZZ über ihrem Kommentar titelt. Nun schlage zuerst einmal die Stunde der Arithmetiker und Taktiker: «Rein rechnerisch sind mehrere Kombinationen möglich.»
Allerdings: «Die Tatsache, dass die jetzt entstandene Situation keine wirklich zukunftsfähige Option offen lässt, ist eine Kalamität.» Die NZZ erlässt gar die Aufforderung an den zukünftigen Bundestag: «Mit einer entsprechenden Gesetzesänderung eine saubere Selbstauflösung erwirken und den Wählenden eine zweite Chance geben.»
Eine Lösung nach Schweizer Vorbild schwebt hingegen dem Chefredaktor des «Blick» vor: «Deutschland braucht jetzt eine Konkordanzregierung: Eine rein linke Regierung kommt wegen der noch wenig gefestigten Linkspartei nicht in Frage (…). SPD oder Grüne müssen jetzt irgendwie mit CDU oder FDP zusammengehen. Deutschland braucht einen Kanzler, der weiss, wie man gut schweizerisch über die Lager hinweg Mehrheiten macht.»
Zukunft mit angezogener Handbremse
Aber zwischen wem wählen? Der «Tages-Anzeiger» geht nach der Wahl mit Schröder ebenso wie mit Merkel hart ins Gericht: «Weder der distanzierten Frau noch dem sich anbiedernden Mann schenkt eine Mehrheit der Deutschen ihr Vertrauen.» Die jetzt drohende Grosse Koalition müsse Bürgerinnen und Bürger von den notwendigen Reformen überzeugen. «Eine solche Politik verlangt Gradlinigkeit und Volksnähe. Schröder fehlt die Gradlinigkeit, Merkel die Volksnähe.»
Sollte sie dennoch Kanzlerin werden, prophezeit ihr die «Berner Zeitung» an der Spitze einer Grossen oder Ampel-Koalition einen «sehr beschränkten Handlungsspielraum». Aber auch wenn es Schröder ein drittes Mal schaffen sollte, «wäre das eine gehörige Überraschung, aber seine Bewegungsfreiheit wäre noch eingeschränkter als vor der von ihm herbeigeführten Wahl. Deutschland hat gewählt. Aus Ratlosigkeit».
Der «Bund» bringt die nahe Zukunft Deutschlands nach der «Wende ohne Gewinner» vielleicht am treffendsten auf den Punkt: «Deutschland steht eine Fahrt mit angezogener Handbremse bevor.»
swissinfo, Philippe Kropf
Das vorläufige End-Ergebnis der deutschen Bundestagswahl:
CDU/CSU: 35,2%
SPD: 34,3%
FDP: 9,8%
Linkspartei: 8,7%
Grüne: 8,1%
Stimmberechtigt waren über 60 Mio. deutsche Bürgerinnen und Bürger. Mit 77,7% lag die Wahlbeteiligung unter den 79,1% von 2002.
In Deutschland wurde am 18. September gewählt. SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder hatte vorgezogene Neuwahlen durch eine provozierte Vertrauensfrage in der Grossen Kammer des Parlaments, dem Bundestag, eingeleitet.
Nach sieben Jahren unter rot-grüner Regierung präsentierte sich die Bundesrepublik den Wahlberechtigten im wirtschaftlichen «Reformstau» und mit 5 Mio. Arbeitslosen – die Aussenpolitik spielte im Vergleich zum Wahlkampf 2002 keine Rolle mehr.
Vor der Wahl dieses Jahr hatten die Auguren einen Regierungswechsel vorausgesagt, der Vorsprung der CDU-Herausforderin Angela Merkel, schwand aber bis zum Wahlwochenende.
Nach der Wahl der Bundestagsmandate ist allerdings nicht klar, wer den Kanzler oder die Kanzlerin stellen wird. Entschieden werden könnte dies erst am 2. Oktober – dann wird in Dresden die Wahl nachgeholt, die wegen des Tods einer Rechtsaussen-Kandidatin verschoben werden musste.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch