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«Kenia hat Signalwirkung für ganz Afrika»

Wem soll dieses Land gehören? Vertriebene im Rift Valley im Westen Kenias. Reuters

Die Unruhen, die nach den Präsidentschaftswahlen in Kenia ausgebrochen sind, seien Konflikte um Land und Wohlstand, die auf die Kolonialzeit zurückgingen, sagt der Schweizer Geograf Urs Wiesmann.

Der Afrika-Experte arbeitet zur Zeit in einem kenianischen Institut für Entwicklungszusammenarbeit, das aus einer schweizerischen Initiative hervorgegangen ist.

Unter der Leitung des Vermittlers der Afrikanischen Union (AU), Kofi Annan, haben die Vertreter der Konfliktparteien ihre Gespräche am Freitag in Nairobi wieder aufgenommen.

Die Tatsache, dass sich der Sieger der Präsidentschaftswahl vom 27. Dezember, Mwai Kibaki, und sein Herausforderer Raila Odinga um eine Annäherung bemühten, ist für den Afrika-Experten Urs Wiesmann ein Zeichen der Hoffnung.

«95 Prozent aller Kenianerinnen und Kenianer mobilisieren gegen die Gewalt. Der Druck auf die politische Elite, eine Einigung zu erzielen, hat in den vergangenen Wochen massiv zugenommen», sagt Urs Wiesmann gegenüber swissinfo.

Noch wichtiger scheint ihm aber die Tatsache, dass es in der öffentlichen Diskussion nicht mehr nur um die Wahl und darum gehe, wer wen reingelegt habe, sondern um die Ursachen, die dahinter stünden.

Alte Konflikte aufgebrochen

«Hinter den Unruhen stehen Konflikte, die sich schon lange angebahnt haben und im Umfeld der Präsidentschaftswahl vom Dezember 2007 an die Oberfläche gekommen sind», erklärt der Geograf.

«Das ist einerseits der Konflikt um Land und Ressourcen im Rift Valley, der auf die Kolonialzeit zurückgeht; weiter der Konflikt zwischen Arm und Reich, der sich verschärft hat, weil Kenia relativ schnell gewachsen ist; schliesslich der Konflikt um das politische System.»

Wirtschaftliche Interessen

Stammesrivalitäten spielten in den aktuellen Konflikten zwar durchaus eine Rolle, aber sie seien nicht Ursache, sondern Mittel im politischen Kampf um Ressourcen wie Land, aber auch um Wohlstand und die Zukunft der Randregionen. «Der Konflikt kommt zwar als ethnischer daher, aber dahinter stecken wirtschaftliche Interessen.»

Der Land-Konflikt im Rift Valley sei deshalb so kompliziert, weil beide Parteien legalen Anspruch darauf hätten: «Die ursprüngliche Bevölkerung ist in der Kolonial- und Nachkolonialzeit enterbt worden, aber die Neuzuzüger haben das Land rechtlich erworben.»

Für den Geografen sind die Unruhen in Kenia nicht etwa ein Rückfall ins Mittelalter der Stammesrivalitäten und blinden Gewalt. Im Gegenteil, das Land stehe auf der Schwelle zur Modernisierung.

«Kenia ist im afrikanischen Vergleich weit fortgeschritten. Deshalb hat das, was jetzt dort passiert, eine Signalwirkung für den ganzen Kontinent», sagt Wiesmann.

Der Bildungsstand sei hoch, die Pressefreiheit weit gediehen, der Diskurs in den Zeitungen werde auf hohem Niveau geführt. Zudem habe sich die Wirtschaft stark modernisiert und die Wachstumsraten seien gross.

Forschungspartnerschaften zwischen Nord und Süd

Im Rahmen des Nationalen Forschungsschwerpunkts Nord-Süd verfolgt Wiesmann eine moderne Entwicklungszusammenarbeit, indem er mit kenianischen und tansanischen Kollegen interdisziplinär nach Lösungen in komplexen Fragen wie etwa der Nutzung von Wasser-, Land- und ökonomischen Ressourcen sucht.

Er kritisiert das in der Schweiz und im übrigen Europa gängige Verständnis von Entwicklungszusammenarbeit als Armutsbekämpfung. Dies sei bei ganz armen Ländern zwar angemessen, aber bei stärker entwickelten wie Kenia gehe es um Bildung, Forschung und Entwicklung zivilgesellschaftlicher Organisationen.

«Als Kenia in den neunziger Jahren zu wachsen begann, hat sich die Schweiz gerade aus diesem Grund aus dem Land zurückgezogen. Diese Vorstellung von Entwicklungszusammenarbeit ist veraltet», sagt Wiesmann.

Im Interesse der Schweiz

Heute gehe es in Kenia weniger um direkte materielle Hilfe, als vielmehr um Partnerschaften in einer globalen Allianz. «Dabei ist es durchaus im Interesse der Schweiz und ganz Europas, dass in Afrika zivile, demokratische Staaten entstehen und nicht Staaten, die zum Spielball von globalen Machtkonstellationen werden.»

Urs Wiesmann kam Anfang Januar nach Kenia, gerade als die Unruhen ausbrachen. Trotz dem erneuten Gewaltausbruch vor einer Woche gebe es Grund zur Hoffnung, sagt er im Gespräch am Telefon: «Ich bin verhalten optimistisch.»

swissinfo, Susanne Schanda

Nach den Präsidentschaftswahlen vom 27. Dezember 2007 kam es zu Unstimmigkeiten bei den Auszählungen der Stimmen.

Amtsinhaber Mwai Kibaki wurde offiziell zum Sieger erklärt, sein Herausforderer Raila Odinga focht das Ergebnis an. Darauf brachen Unruhen aus.

Der Konflikt um die Land-Ressourcen begann in der Region des Rift Valley.

Zu weiteren Unruhen kam es an der Peripherie des Lake Victoria, in den Slums der Grossstädte und am Rand von Mombasa.

Bereits in den späten achtziger und frühen neunziger Jahren hat sich der heute 55-jährige Geograf aus Bern während vier Jahren in der Entwicklungszusammenarbeit in Kenia engagiert.

Aus dieser Arbeit in Nanyuki am Fuss des Mount Kenya, 200 Kilometer nördlich der Hauptstadt Nairobi, ist ein kenianisches Forschungsinstitut entstanden, an dem Wiesmann zur Zeit sein Freisemester von der Universität Bern verbringt. Ausserdem hält der Vorlesungen an der Universität Nairobi.

Urs Wiesmann ist stellvertretender Direktor des Nationalen Forschungsschwerpunkts Nord-Süd. Dieser arbeitet mit Forschungspartnerschaften an der Milderung von Folgen des globalen Wandels. Das Projekt wird gemeinsam vom Schweizerischen Nationalfonds und der DEZA getragen.

Am Geografischen Institut der Universität Bern leitet Wiesmann das Centre for Development and Environment (CDE).

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