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Kniefall der Schweiz vor den USA?

Fakt ist: Die brisanten Akten wurden geschreddert. Offen ist, wann? foto-begsteiger

Die vom Bundesrat angeordnete Akten-Vernichtung im Strafverfahren um die Atomschmuggel-Affäre wirft immer höhere Wellen. Experten kritisieren die fehlende Gewaltentrennung. Offenbar war auch ein US-Vertreter bei der Schredder-Aktion anwesend.

Die Affäre ist einmalig und widerspricht den Gepflogenheiten des Rechtsstaates. Die Regierung hat in ein hängiges Strafverfahren eingegriffen und allfälliges Beweismaterial vernichten lassen.

«Der Bundesrat steht nicht über der Justiz, auch wenn die Sicherheit oder die Landesinteressen betroffen sind», hält der Staatsrechtler Thomas Fleiner fest. Weder die Regierung noch das Parlament könnten in die Zuständigkeit der Justiz eingreifen.

Auch für andere Rechtsexperten ist klar: Der Bundesrat hat die Gewaltentrennung verletzt. Der Präsident der St. Galler Anklagekammer Niklaus Oberholzer, bezeichnete die Aktion deshalb als eine «Ungeheuerlichkeit».

Am 23. Mai bestätigte der Bundesrat die Vernichtung. Die entsprechende Erklärung von Pascal Couchepin war karg: Der Bundespräsident begründete die ungewöhnliche Aktion mit Sicherheitsrisiken und internationalen Verpflichtungen.

Bei den Akten handelte es sich unter anderem um detaillierte Pläne für den Bau von Nuklearwaffen und Gaszentrifugen zur Anreicherung von waffenfähigem Uran. Die Internationale Atomenergieagentur (IAEA) habe deshalb um Einsicht in die Akten ersucht, worauf der Bundesrat im November 2006 einer formalen Kooperation mit der IAEA zugestimmt habe, sagte Couchepin.

Gut ein Jahr später habe die Regierung der Vernichtung des Materials durch die Bundeskriminalpolizei unter Aufsicht der IAEA zugestimmt.

Darstellung gerät ins Wanken

Seither herrscht auf der Seite der Regierung Stillschweigen. Gleichzeitig kommt die offizielle Darstellung immer stärker ins Wanken, tauchen ungelöste Fragen und Spekulationen auf.

Stichwort Brisanz des Materials: Es sei ein «absoluter Vorwand», die Vernichtung mit dem Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen (NPT) zu begründen, wie die Regierung das tue, sagt der Genfer Strategieexperte Andreas Zumach.

Zumach glaubt nicht an eine Weisung der IAEA, wonach die Akten zu vernichten seien. Er vermutet vielmehr, dass es andere Gründe gegeben habe. Konkret: Druck aus den USA. Denn die Akten belegten laut Medienberichten auch die Zusammenarbeit der Tinners mit dem US-Geheimdienst CIA.

Laut einem Bericht von Schweizer Radio DRS fand die Aktenvernichtung sogar unter Aufsicht eines US-Vertreters statt. Der Sender beruft sich dabei auf gut unterrichtete Quellen. Bundesratssprecher Oswald Sigg wollte sich nicht zu dieser Information äussern.

Zeitpunk der Vernichtung nicht klar

«Gut vorstellen», dass die Vernichtung unter amerikanischer Aufsicht statt fand, kann sich der emeritierte ETH-Professor für Sicherheitspolitik, Kurt R. Spillmann. Er verweist auf die Möglichkeit, dass die Akten auch Angaben zu US-Agenten hätten enthalten können. Die USA hätten deshalb aus Gründen des Quellenschutzes die Vernichtung durchgesetzt.

Unklarheit herrscht mittlerweile auch über den Zeitpunkt der Vernichtung. Klar ist, dass der Bundesrat den Beschluss am 14. November 2007 gefasst hat, als Christoph Blocher noch Justizminister war.

Laut Recherchen von Radio DRS gibt es Hinweise darauf, dass die Schredder-Aktion erst im Februar 2008 stattfand. Wenn das so ist, stellt sich die Frage, wieso und wo denn die heiklen Akten noch wochenlang liegen geblieben sind.

Laut dem Radio, hat sich die Nachfolgerin von Blocher, Eveline Widmer-Schlumpf, dafür eingesetzt, dass weniger Akten als geplant vernichtet werden. Der Bundesrat habe aber ihren Antrag für ein differenzierteres Vorgehen abgelehnt.

«Ich sage nicht, ob ja oder nein, ich werde mich gegenüber Parlament und Kommissionen dazu äussern», erklärte die Justizministerin dazu lediglich.

Untersuchungsbericht im Herbst

Fakt ist, dass die Geschäftsprüfungsdelegation (GPDel) des Parlaments erst am 8. Februar informiert worden ist. Das Gremium will bis im Herbst einen Bericht über seine Untersuchungen vorlegen.

Auch im Parlament beschäftigt die Affäre die Gemüter. Die Grünen forderten die Einsetzung einer Parlamentarischen Untersuchungs-Kommission.

Die Aktion sei ein Kniefall vor den USA. Neutralität und Souveränität schienen gegenüber den USA nicht zu gelten, kritisierte die Partei.

swissinfo, Andreas Keiser

Die zwei Schweizer Ingenieure Urs und Marco Tinner, die verdächtigt werden, sich am Atomschmuggel für Libyen beteiligt zu haben, sitzen seit mehreren Jahren in Untersuchungshaft.

Das Bundesstrafgericht hat sich am vergangenen Mittwoch wegen Flucht- und Verdunkelungsgefahr gegen eine Haftentlassung ausgesprochen. Die Verteidigung zieht das Urteil ans Bundesgericht weiter.

Urs Tinner wurde im Oktober 2004 in Deutschland festgenommen und später an die Schweizer Behörden übergeben.

Sein Bruder wurde im September 2005 in Haft genommen. Auch der Vater der beiden, Friedrich Tinner, sass wegen des Verdachts auf Atomschmuggel mit Libyen vorübergehend in Haft.

Die drei sollen 2001 bis 2003 für Abdul Qader Khan, den «Vater der pakistanischen Atombombe», gearbeitet haben, der ein geheimes Atomwaffenprogramm für Libyen durchführte.

Die Affäre flog Anfang 2004 auf, nachdem Libyen sein Atomwaffenprogramm eingestellt und Khan die illegalen Atomgeschäfte mit Iran, Libyen und Nordkorea zugegeben hatte.

Pakistan hat das Abkommen über die Nichtverbreitung von Nuklearwaffen nicht unterzeichnet.
Im Mai 1998 hat Islamabad mehrere Atomwaffentests durchgeführt.
Libyen hat sein Nuklearprogramm offiziell 2003 aufgegeben. Zuvor hatte die Regierung von Muammar Ghaddafi mehrmals versucht, Atomwaffen zu erwerben.

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