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Kontroverse um politische Kultur

"Behinderte" Bundesräte Merz und Blocher auf den SGB-Postkarten. Keystone/SBG

Die Abstimmungskampagne des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) zur IV-Revision hat Staub aufgewirbelt. Auf Postkarten sind Bundesräte als Behinderte abgebildet.

Diskutiert wird über die politische Kultur in der Schweiz. Eine Diskussion, die bisher vor allem von Seiten der SVP provoziert wurde.

Als Rollstuhlfahrer, Einbeinige oder Alkoholiker machen die Regierungsmitglieder Hans-Rudolf Merz, Christoph Blocher und Pascal Couchepin sowie Ueli Maurer, Präsident der Schweizerischen Volkspartei (SVP), auf Fotomontagen unfreiwillig Werbung für die Nein-Parole zur 5. Revision der Invaliden-Versicherung (IV).

«Lieber Herr Bundesrat Blocher, stellen Sie sich vor behindert zu sein, und ein populistischer Politiker begründet die unsoziale IV-Revision damit, dass es zu viele Scheininvalide gebe. Wie würden Sie am 17. Juni abstimmen?», steht unter einer Fotomontage.

Kritik – auch aus den eigenen Reihen

Für den selber behinderten, freisinnigen Nationalrat Marc F. Suter ist die Kampagne «geschmacklos». Sie zementiere das negative Bild von behinderten Menschen.

Kritik kommt auch aus den eigenen Reihen. Die SGB-Sektion Oberaargau spricht von einer «Entgleisung».

Der sozialdemokratische Nationalrat Peter Vollmer sagte in der SonntagsZeitung: «Die SVP hat die politische Kultur zerstört; wir sollten uns davor hüten, diesen Stil der Verunglimpfung zu übernehmen.»

Für den renommierten Werber Herman Strittmatter, SP-Mitglied, ist die «unsägliche Kampagne» ein weiteres Eigentor der Gewerkschaften und für die Gegner der IV-Revision eine «selbstmörderische Aktion», wie er im Tages-Anzeiger sagte.

Anders tönt es bei Frank Bodin, einem anderen renommierten Werber. Behinderung werde gerne verdrängt. Hier rege sie aber zum Nachdenken an.

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Invaliden-Versicherung

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Die Invalidenversicherung (IV) ist eine obligatorische Versicherung. Sie sichert den Versicherten die Existenzgrundlage, wenn sie invalid werden. Dies geschieht mittels Eingliederungsmassnahmen oder Geldleistungen. Die IV subventioniert auch speziell eingerichtete Institutionen. Die Versicherung wird zu rund 40% von Beiträgen der Erwerbstätigen und Arbeitgeber finanziert. Der Rest stammt aus öffentlichen Geldern.

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Mit Behinderten-Organisationen abgeklärt

Kampagnenleiter Pietro Cavadini räumt ein, dass es auch in gewerkschaftlichen Kreisen Ärger gegeben habe. Aber bei diesem Thema müsse man provozieren.

Und SGB-Präsident Paul Rechsteiner doppelt nach: «Der provokative Auftritt ist ein Denkanstoss, dass alle von Invalidität betroffen sein könnten.»

Überdies sei die Kampagne mit den Behinderten-Organisationen abgeklärt worden.

Tatsächlich stösst die Aktion bei diesen vorwiegend auf Zustimmung. «Das ist kein Missbrauch», so Barbara Marti von «Agile Behinderten-Selbsthilfe Schweiz».

Ein oft gehörtes Argument bei Behinderten ist, dass man sich im Abstimmungskampf den Luxus von Nettsein nicht leisten könne.

Mit Emotionen Politik beeinflussen

Für den Politologen Andreas Ladner gehört die Aktion zu jenen Kampagnen, die mit Bildern, Assoziationen und Emotionen die Politik zu beeinflussen versuchen. Provokation sei dabei ein Stilmittel.

«Ich hoffe nur, dass dieser Stil nicht überhand nehmen wird», sagt Ladner gegenüber swissinfo. Ihr Ziel habe die Kampagne aber bereits erreicht: «Man spricht darüber.»

Auf tiefstem Niveau bewege man sich aber nicht. «Verglichen mit dem Ausland ist die SGB-Kampagne sogar eher zurückhaltend.»

Bekanntes Muster

Politwerbung mittels Provokation wurde bisher vor allem von der politischen Rechten, insbesondere der SVP, angewendet.

Die SVP des Kantons Zürich bestritt 1998 den Abstimmungskampf über einen Behandlungsprogramm-Kredit für Sexual- und Gewaltstraftäter mit einem Inserat, das bereits vor fünf Jahren verwendet worden war: Das so genannte Messerstecher-Inserat hatte damals in weiten Kreisen Empörung hervorgerufen.

«Das haben wir den Linken und Netten zu verdanken: mehr Kriminalität, mehr Drogen, mehr Angst», hatte es 1993 geheissen, als die SVP mit ihrem Inserat auf die Ermordung einer Pfadfinderin reagierte. Dabei war ein Mann mit Messer zu sehen, der eine Frau angreift.

Erfolgsrezept der SVP

Seit Jahren betreibt die SVP mit oft diffamierenden Inseraten Wahl- und Abstimmungskampf – erfolgreich, wie zum Beispiel 2004 das Nein zu erleichterten Einbürgerungen zeigte. In den Inseraten waren dunkle Hände zu sehen, die nach Schweizerpässen greifen.

Für Empörung sorgte ein SVP-nahes Komitee bei der gleichen Abstimmungs-Kampagne auch mit einem anti-muslimischen Inserat mit dem Titel: «Muslime bald in der Mehrheit?»

Politwerbung mittels Provokation und Diffamierung ist allerdings keine SVP-Erfindung. Man habe immer wieder versucht, mit kämpferischen Plakaten aufzuzeigen, wo der politische Gegner liege, so Politologe Ladner zu swissinfo.

«Früher wurden beispielsweise Firmenbesitzer in Bildern als Kapitalisten-Schweine dargestellt. Neu ist vielleicht, dass die SVP mit solchen Kampagnen Erfolg hat.»

swissinfo, Jean-Michel Berthoud

Die Abstimmung über die 5. Revision der Invaliden-Versicherung (IV) findet am 17. Juni statt. Mit der Revision sollen gewisse Leistungen gekürzt werden. Gleichzeitig soll die berufliche Wiedereingliederung gefördert werden.

Gegen die Revision sind neben dem Gewerkschaftsbund auch linke Parteien wie die SP, die Krebsliga, die Aidshilfe, der Gehörlosenverband und zahlreiche weitere Behinderten-Organisationen. Kritik kam auch aus der Ärztegesellschaft FMH.

Während die Gegner die IV-Revision als reinen Sozialabbau kritisieren, liegt die Vorlage nach Auffassung der bürgerlichen Befürworter im Interesse der Behinderten. Sie richte gemäss dem Grundsatz «Arbeit vor Rente» den Fokus auf eine frühzeitige Erfassung gefährdeter Personen.

Die SGB-Kampagne mit «behinderten» Bundesräten ist am Rande einer Bundesratssitzung zur Sprache gekommen.

Die Landesregierung sei sich einig, «dass die Kampagne vor allem problematisch ist, weil sie die Behinderten instrumentalisiert», sagte CVP-Bundesrätin Doris Leuthard.

FDP-Bundesrat Hans-Rudolf Merz erklärte im SonntagsBlick: «Pervers, die Kampagne ist daneben.» Die Kampagne suggeriere etwas vollkommen Falsches.

SP-Bundesrat Moritz Leuenberger sagte in der NZZ am Sonntag: «Die Kampagne bildet nur jene ab, die sie als ihre Gegner sieht. So wird der Gegner zur Strafe durch Fotomontage verstümmelt; das ist reaktionär.»

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