«Kosovo muss aussenpolitische Isolation überwinden»
Erstmals seit der Unabhängigkeitserklärung im Jahr 2008 finden am Sonntag in Kosovo Parlamentswahlen statt. Nach Ansicht des Schweizer Botschafters in Pristina, Lukas Beglinger, bleibt das Land in hohem Mass auf ausländische Unterstützung angewiesen.
swissinfo.ch: Wie ist die Stimmung im Land vor den Parlamentswahlen?
Lukas Beglinger: Die Aufbruchstimmung von 2008 hat einer verbreiteten Ernüchterung Platz gemacht, da sich die in die Unabhängigkeit gesetzten Hoffnungen, die mitunter unrealistisch waren, nur teilweise erfüllt haben. Insbesondere bleibt die wirtschaftliche und soziale Lage prekär.
Die Bevölkerung ist sich mehrheitlich bewusst, dass die ersten nationalen Wahlen im unabhängigen Kosovo eine für die Zukunft des jungen Landes wichtige politische Weichenstellung darstellen.
swissinfo.ch: Die Schweiz war eines der ersten Länder, die Kosovo nach der Unabhängigkeitserklärung anerkannt haben. Die Stabilität in Kosovo liegt im Interesse der Schweiz. Hier leben rund 170’000 Personen aus Kosovo. Inwiefern hat sich die Migration aus Kosovo seit der Unabhängigkeitserklärung verändert?
L.B.: Entsprechend unseren Erwartungen hat sich die Unabhängigkeit Kosovos nicht signifikant auf die Migrationsströme ausgewirkt, weder in die eine noch in die andere Richtung.
Die massive Schweizer Wiederaufbauhilfe nach der Beendigung des Kosovo-Krieges ermöglichte die Rückkehr zehntausender kosovarischer Flüchtlinge. Die heute in der Schweiz lebende kosovarische Diaspora zieht es grossmehrheitlich vor, in unserem Land zu bleiben. Die Zahl der Rückkehrer nach Kosovo, einige hundert Personen pro Jahr, ist über die letzten Jahre stabil geblieben.
Eine erhöhte Rückkehrbereitschaft der kosovarischen Diaspora würde eine spürbare Verbesserung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in Kosovo voraussetzen, was bis anhin leider nicht der Fall ist.
Familiennachzug ist der Hauptanlass für die Zuwanderung in die Schweiz. Wegen mangelnder wirtschaftlicher und sozialer Perspektiven bleibt die Emigrationsbereitschaft bei der jungen Bevölkerung Kosovos indes hoch, wobei die Schweiz mit ihrer bedeutenden kosovarischen Diaspora zu den bevorzugten potenziellen Zielländern gehört. Trotzdem ist keine nennenswerte Erhöhung der Emigration in unser Land zu verzeichnen.
swissinfo.ch: Kosovo ist eines der ärmsten Länder Europas, die Arbeitslosigkeit ist sehr hoch. Aufgrund von fehlender Rechtssicherheit sowie verbreiteter Korruption sehen viele ausländische Firmen davon ab, sich in Kosovo niederzulassen. Was tut die Schweiz, um dies zu ändern?
L.B.: Es ist in erster Linie Aufgabe der kosovarischen Institutionen und der Bevölkerung, für einen funktionierenden Rechtsstaat einzustehen, die Korruption zu bekämpfen und die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft voranzutreiben.
Als wichtiger Partner Kosovos legt die Schweiz in ihrer Aufbauhilfe bewusst einen Schwerpunkt auf die genannten Problembereiche (Reform des Strafvollzugs, Kataster- und Notariatswesen, Ausbildung der Migrations-, Polizei- und Gemeindebehörden, Berufsausbildung, Modernisierung der Landwirtschaft, Beschäftigungsprogramm, Wasser- und Stromversorgung).
Zudem beteiligt sich die Schweiz an der europäischen Rechtsstaatsmission EULEX und ist daran, mit Kosovo ein Investitionsschutz-Abkommen abzuschliessen.
swissinfo.ch: Die Schweiz ist eines der wichtigsten Geberländer. Sie hat seit Ende 1990 über 600 Mio. Franken in die politische und wirtschaftliche Stabilisierung und Entwicklung in Kosovo investiert. Was sind konkret die Früchte dieser Beiträge?
L.B.: Die Schweiz gilt in Kosovo vielfach als Vorbild und steht für vieles, was die kosovarische Gesellschaft erreichen möchte.
Unsere Unterstützung der Infrastruktur zeitigt konkrete Ergebnisse, zum Beispiel in Form wieder aufgebauter Häuser, des Zugangs zu sauberem Trinkwasser für rund 300’000 Personen und gesicherter Stromversorgung für die Provinzstadt Gjilan.
Ebenso bedeutend sind die Früchte unseres Wirkens in so genannten «Software»-Bereichen. So erhalten rund 4000 Berufsschüler pro Jahr dank der Schweiz eine praxisorientierte Ausbildung, und Gemeindebehörden erfüllen ihre Aufgaben mit verbesserter Kompetenz.
Weiter fördern wir das friedliche Zusammenleben verschiedener ethnischer Gruppen mittels entsprechender Gesetzgebung, politischer Dezentralisierung und Projektarbeit. Wir unterstützen die für 2011 in Kosovo geplante Volkszählung und tragen mit der Finanzierung einer Internet-Plattform zur Mobilisierung der Diaspora zugunsten der Entwicklung Kosovos bei.
swissinfo.ch: Wo sehen Sie heute in Kosovo den grössten Handlungsbedarf?
L.B.: Kosovo steht vor grossen innen- und aussenpolitischen Herausforderungen. Dazu zählen zum einen der Aufbau eines funktionierenden Rechtsstaats zugunsten aller Bürger und Gemeinschaften des Landes und einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft, die genügend Arbeitsplätze für die wachsende Bevölkerung bereitstellt.
Zum andern gilt es die aussenpolitische Isolation zu überwinden. Dazu gehört auch eine Normalisierung des Verhältnisses zu Serbien.
swissinfo.ch: Angesichts des fehlenden Konsenses über die Staatlichkeit Kosovos fehlt es an einer klaren Koordination der internationalen Organisationen in Kosovo. Sind die Projekte der Schweiz auf jene der anderen Länder und Organisationen abgestimmt?
L.B.: Die Schweiz koordiniert ihre Hilfe eng mit den andern internationalen Partnern und der kosovarischen Regierung und führt vielfach auch gemeinsame Projekte durch.
Kosovo bleibt in hohem Masse auf ausländische Unterstützung angewiesen. Unsere Hilfe basiert auf dem Leitmotiv «Hilfe zur Selbsthilfe», weshalb wir dem Aufbau von Kapazitäten und Expertise auf kosovarischer Seite grosse Bedeutung beimessen. Im Bereich der Wasserversorgung beispielsweise fördern und fordern wir ein nachhaltiges, professionelles Management samt Unterhalt.
swissinfo.ch: Welche Hoffnung setzen Sie auf den von der EU-Kommission angekündigten Dialog nach den Wahlen?
L.B.: Der vorgesehene Dialog zwischen Kosovo und Serbien ist eine Notwendigkeit. Er bietet zudem Gelegenheit, zahlreiche Probleme, welche das Leben der Bevölkerungen beider Länder beeinträchtigen, auszuräumen und eine neue Phase konstruktiver Kooperation einzuleiten
Das ist auch mit Blick auf die EU-Beitrittsambitionen beider Länder unerlässlich.
Nur eine Minderheit der Kosovaren in der Schweiz dürfte an den vorgezogenen Parlamentswahlen im Kosovo am Sonntag teilnehmen. Der Grund: Für eine Teilnahme wurden den Kosovaren im Ausland viel zu kurze Fristen gesetzt.
«Ich habe den Eindruck, dass es keinen politischen Willen im Kosovo gibt, die Diaspora an der Wahl teilnehmen zu lassen», sagt Bashkim Iseni. Er ist Direktor der Internet-Seite albinfo.ch, die aktuelle Informationen für Albaner aus dem Kosovo und Albanien aufbereitet.
Um an den ersten Wahlen seit der Unabhängigkeit des Landes teilnehmen zu können, blieben den Kosovaren nur zwei Wochen Zeit, sich bei der Botschaft in Bern einzuschreiben: die vorgezogenen Wahlen waren am 2. November angekündigt worden; die Einschreibefrist lief bereits am 16. November ab.
Am 17. Februar 2008 erklärte die ehemalige serbische Provinz Kosovo ihre Unabhängigkeit.
Die Schweizer Regierung anerkannte Kosovo am 27. Februar 2008 als eines der ersten Länder weltweit als unabhängigen Staat.
In der Schweiz leben rund 170’000 Personen aus Kosovo.
Die Schweiz ist eines der wichtigsten Geberländer Kosovos. Zwischen 1996 und 2007investierte die Schweiz rund 600 Mio. Franken in die politische und wirtschaftliche Stabilisierung und Entwicklung des Landes.
Seit 1999 ist die Swisscoy als Teil der multinationalen KFOR im Kosovo im Einsatz. Im November hat der Bundesrat beschlossen, den Einsatz bis zum 31. Dezember 2014 zu verlängern.
Zudem beteiligt sich die Schweiz an der europäischen Rechtsstaatsmission EULEX.
(Das Interview wurde in schriftlicher Form geführt)
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