Krankenkassenprämien belasten Schweizer Haushalte immer stärker
Die Ausgaben für das Gesundheitswesen sind in den letzten drei Jahrzehnten nahezu unaufhaltsam gestiegen. Das Wirtschaftswachstum in der Schweiz reicht zwar aus, um dieses Kostenwachstum zu bewältigen. Die Belastung wird für einen Teil der Haushalte aber bald untragbar, warnen Experten:innen.
Die Kurve lässt wenig Raum für Interpretationen: Seit der Einführung der obligatorischen Krankenversicherung in der Schweiz im Jahr 1996 haben sich die Gesundheitskosten mehr als verdoppelt, auf 91,5 Milliarden Franken im Jahr 2022.
Laut Prognosen der KonjunkturforschungsstelleExterner Link (KOF) sollte die 100 Milliarden-Franken-Marke bereits 2025 erreicht werden.
Solche Zahlen befeuern die politische Debatte, welche die Schweiz derzeit über die Gesundheitskosten führt, die Abstimmung über je eine Initiative der Sozialdemokratischen Partei (SP) und der Mitte-Partei vor Augen.
Beide Vorlagen, über die das Stimmvolk am 9. Juni abstimmt, wollen die Belastung der Bevölkerung eindämmen.
Die Daten des Bundesamts für Statistik (BFS) zeigen, dass die Gesundheitsausgaben im Jahr 2022 11,7% des Bruttoinlandprodukts (BIP) der Schweiz ausgemacht haben (11,3% gemäss OECD).
Dieser Anteil ist in den letzten drei Jahrzehnten stetig gestiegen, dürfte sich nun aber laut KOF bei rund 11,5% stabilisieren, und zwar mindestens bis 2025.
Diese Stabilisierung kann durch zwei Faktoren erklärt werden: Einerseits könnte sich das BIP-Wachstum verstärkt haben, andererseits könnte sich der Anstieg der Gesundheitskosten verlangsamt haben, wie Joachim Marti, Ökonom am Universitätszentrum für Allgemeinmedizin und öffentliche Gesundheit (Unisanté) in Lausanne, erläutert.
«Im Grund genommen bedeutet dies nur, dass die Gesundheitskosten und die Wirtschaft nun im gleichen Tempo wachsen“, sagt er.
Ein Schneeballeffekt
Wenn keine Massnahmen ergriffen werden, dürften die Gesundheitskosten dennoch weiter steigen.
«Es wäre ein bisschen wie Zauberei, wenn es uns gelänge, die Gesundheitskosten zu stabilisieren, ohne etwas zu tun“, sagt Stéfanie Monod, Professorin an der Universität Lausanne und Expertin für das Schweizer Gesundheitssystem.
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Die immer höheren Erwartungen der Gesellschaft, der technologische Fortschritt und eine alternde Bevölkerung ziehen die Kosten unwiderruflich nach oben, sagt sie.
«Das Wachstum ist wie in allen westlichen Ländern kontinuierlich. Wir haben einen Schneeballeffekt», so Monod.
«Der Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP spiegelt die Ressourcen wider, die wir bereit sind, für die Gesundheit aufzuwenden“, sagt Marti.
Die Schweiz gehört immer noch zu den Ländern der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), die am meisten Geld für ihr Gesundheitssystem ausgeben. Auch wenn sie nicht mehr wie noch vor einigen Jahren direkt hinter den USA rangiert.
«Die Schweiz als reiches Land kann sich diese hohen Ausgaben leisten“, meint Carlo De Pietro, Ökonom und Spezialist für das Schweizer Gesundheitssystem.
Felix Schneuwly, Krankenversicherungsexperte beim Vergleichsdienst Comparis, hält die Gesundheitskosten für tragbar.
Dies, solange das Wirtschaftswachstum anhält und der Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP zwischen 11 und 12% verbleibe, wie er letztes Jahr gegenüber RTS Externer Linksagte.
Jérôme Cosandey, Westschweizer Direktor von Avenir Suisse, einer liberal inspirierten Denkfabrik, meint, dass die Ausgaben im Gesundheitsbereich als Investition betrachtet werden sollten.
«Die politische Debatte sollte sich mehr auf das Kosten-Nutzen-Verhältnis und nicht nur auf die Kosten konzentrieren. Beispielsweise sollte man sich mehr fragen, ob eine medizinische Intervention die Lebensqualität einer Patientin oder eines Patienten wirklich verbessert», sagt er.
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Eine Schweizer Besonderheit, welche die Debatten entfacht
Das Hauptproblem liegt nach Ansicht der von uns befragten Expert:innen woanders. Es liegt in der Art der Finanzierung des Gesundheitssystems, die vor 30 Jahren beschlossen wurde.
Diese beruht zu einem erheblichen Anteil auf den Prämien für die obligatorische Krankenversicherung. Das heisst auf Beiträgen, die gleichmässig auf alle Personen verteilt werden.
De Pietro stellt fest, dass in fast allen anderen Ländern der Welt die Beiträge proportional zum Einkommen sind und das System häufig aus Steuermitteln finanziert wird.
«Die Schweiz neigt dazu, stolz auf ihre Ausnahmen zu sein. Nun, die Finanzierung des Gesundheitswesens ist eine solche. Diese Einzigartigkeit beginnt jedoch, Probleme mit dem sozialen Konsens zu verursachen, da die Mittelschicht darunter leidet», sagt er.
Durch das System der Kopfprämien belastet der Anstieg der Gesundheitskosten vor allem einkommensschwache Haushalte und Familien mit Kindern.
Derzeit geben diese Gruppen durchschnittlich 14% ihres Einkommens für diese Beiträge aus, während dieser Anteil 2007 noch bei knapp 9% lag.
Ausserdem erstattet die Krankenversicherung nicht die gesamten Gesundheitskosten. Neben den Prämien müssen die Versicherten einen jährlichen Betrag aus eigener Tasche bezahlen, die Franchise, und 10% der Kosten tragen, die diesen Betrag übersteigen. Dieser so genannte «Selbstbehalt“ ist auf 700 Franken begrenzt.
Hinzu kommt, dass einige Leistungen nicht von der Pflichtversicherung übernommen werden, wie namentlich die Zahnarztkosten.
Die Haushalte zahlen über 50 Prozent
Insgesamt tragen die Schweizer Haushalte rund 60% der Gesundheitskosten selbst, rechnet Marti vor. «Das ist viel mehr als in den meisten OECD-Ländern», stellt der Ökonom fest.
Auf der anderen Seite stellt er fest, dass bloss etwas mehr als 20% des Systems durch öffentliche Gelder finanziert wird. «Dieser Anteil ist gering, selbst die USA haben höhere öffentliche Ausgaben», so Marti.
Der Rest wird durch freiwillige Versicherungen und andere Finanzierungsquellen (NGOs, Arbeitgeber, Systeme für Nichtansässige) getragen.
«Das Problem sind nicht so sehr die steigenden Gesundheitskosten, sondern vielmehr die Belastung, die sie für den Einzelnen darstellen», sagt Joachim Marti.
Marti ist überzeugt, dass es auf die eine oder andere Weise zu einem Ausgleich kommen wird. Selbst wenn die Initiativen der Mitte und der SP zur Kostendämpfung am 9. Juni an der Urne scheitern.
Der Gesundheitsökonom warnt: «Wenn man das Kostenwachstum nicht wirksamer bekämpft oder die Finanzierungsregeln ändert, wird es für einen wachsenden Teil der Bevölkerung sehr schwierig. Das wird zu starken Reaktionen führen.»
Mehr Kosten auf Gegenseitigkeit
Liberale Kreise interpretieren diese Zahlen jedoch anders. In einer Publikation weist der Thinktank Avenir SuisseExterner Link darauf hin, dass der Anteil der vom Staat übernommenen und damit steuerfinanzierten Gesundheitskosten in den letzten drei Jahrzehnten von rund 15 auf 23% gestiegen ist.
«Die reichsten Haushalte tragen somit mehr zur Finanzierung des Gesundheitssystems bei, da sie mehr Steuern zahlen“, sagt Cosandey. Nach seiner Ansicht findet bereits eine zunehmende Vergemeinschaftung der Ausgaben in diesem Bereich statt.
Die steigenden Gesundheitskosten und die kommende Abstimmung waren auch Thema unserer Gesprächsrunde «Let’s Talk», hier nachzuschauen:
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«Wir haben zu viele Spitäler»: Unser Talk zu den Prämieninitiativen
Editiert von Samuel Jaberg, Übertragung aus dem Französischen: Marc Leutenegger
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