«Kreativität basiert auf Ungehorsam»
Junge arabische Aktivisten und internationale Prominenz aus Politik und Kultur debattierten an einer Konferenz in Bern über die Aufstände in der arabischen Welt und deren Bedeutung für Europa und die Schweiz.
Die Schweizer Aussenministerin Micheline Calmy-Rey wandte sich in ihrer Eröffnungsrede an die arabische Jugend im Publikum: «Sie sind die Zukunft Ihrer Länder, weil Sie jung sind und mutig für Veränderung, Demokratie und Würde kämpfen. Indem Sie die arabische Welt verändern, verändern Sie die Welt.»
Die Politische Abteilung IV, Menschliche Sicherheit, des Departements für Auswärtige Angelegenheiten (EDA) hat ihre Jahreskonferenz den Aufständen in der arabischen Welt gewidmet und dazu auch junge Aktivisten und Aktivistinnen aus Ägypten, Tunesien, Libyen, Syrien, Bahrain und Jemen eingeladen.
Die Gelder der Diktatoren
Die 24-jährige Journalismus-Studentin Sondos Asem aus Ägypten berichtete von der Ernüchterung seit dem enthusiastisch gefeierten Sturz Mubaraks: «Der Geist des Tahrir-Platzes ist immer noch lebendig, aber wir fürchten die Rückkehr der alten Kräfte.»
Asem steht selbstbewusst mit Kopftuch zu ihrem islamischen Hintergrund und plädiert für ein pluralistisches Parlament. Die jüngsten Angriffe auf demonstrierende Christen in Kairo seien nicht von Islamisten ausgegangen, sondern von der Armee, sagte sie.
Sofiane Belhaj, ein 29-jähriger Blogger und Begründer mehrerer Facebook-Gruppen in Tunesien, berichtete vom Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei während der Proteste. Jetzt stehe die Knochenarbeit des Aufbaus an, sagt Belhaj: «Der Weg zur Demokratie ist noch weit.»
Dann wandte er sich direkt an die Schweizer Aussenministerin: «Es ist sehr gut, die Gelder der Diktatoren zu blockieren und sie an die Bevölkerungen zurückzugeben. Aber es wäre noch besser gewesen, sie gar nicht erst anzunehmen.»
Die alte Dame des arabischen Feminismus
Im Geist jung geblieben ist die 80-jährige Nawal El Saadawi, ägyptische Ärztin, Schriftstellerin, Feministin und Menschenrechtlerin. Ihre Bücher wurden in über 30 Sprachen übersetzt und in Ägypten immer wieder verboten.
2004 hatte sie erklärt, bei der Präsidentschaftswahl gegen Mubarak anzutreten, nur um die Wahl als Farce zu entlarven. Auch El Saadawi beteiligte sich im Februar an den Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz.
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In Bern sprach sie über den Zusammenhang von Kreativität und Revolution. Nach dem begeisterten Aufbruch der Millionen am Anfang des Jahres stecke der Veränderungsprozess nun in der eisernen Faust des Militärrats fest, sagte sie. Vom Militär sei keine Erneuerung zu erwarten, denn dieses funktioniere nur durch Befehlen und Gehorchen. Kreativität sei jedoch gerade das Gegenteil: «Kreativität basiert auf Ungehorsam.»
Bereits als 10-jähriges Mädchen habe sie von der Revolution geträumt, sagte El Saadawi am Rand der Konferenz gegenüber swissinfo.ch: «Nach 70 Jahren hat sich dieser Traum endlich erfüllt. Es war grossartig.»
Doch sie gibt sich keinen Illusionen hin: «Mit Mubarak haben wir dem Regime nur den Kopf abgeschlagen. Der Körper ist immer noch da. Die alten Kräfte sitzen überall, im Militär, in den Medien, in den Bildungsinstitutionen.»
Was tut die Schweiz?
Zum Abschluss der Konferenz debattierten Experten über die Herausforderungen und Strategien in Europa und der Schweiz bezüglich der Umbrüche in zahlreichen arabischen Ländern. Die Schweizer Ökonomin Cornelia Meyer gab zu Bedenken, dass der Wirtschaft eine eminente Bedeutung zukomme und in den nächsten Jahren in der arabischen Welt rund 100 Millionen Arbeitsplätze benötigt würden.
«Die Schweiz unterstützt Ägypten beim Schaffen von neuen Jobs», erklärte Staatssekretär Peter Maurer. Weitere Prioritäten würden bei der Reform der Sicherheitskräfte, dem Abbau der Korruption und der Wahrheitsfindung gesetzt. Maurer warnte vor zu hohen Erwartungen an die Möglichkeiten der Eidgenossenschaft.
«Wir sind erst dabei, die Zivilgesellschaft zu entdecken, die in Bewegung ist. Der politische Raum in den arabischen Ländern öffnet sich gerade erst. Dabei ist es oft schwierig, legitime Partner mit berechtigen Anliegen zu finden, die wir unterstützen können», sagte Maurer.
Von arabischer Seite wurde an der Konferenz wiederholt kritisiert, dass die westlichen Länder in ihren Beziehungen zu den Diktaturen des Nahen Ostens mit unterschiedlichen Massstäben messen würden, je nachdem, welche Interessen sie mit dem Land verbinden würden.
So fragte die junge Menschenrechtsaktivistin Maryam Al Khawaja aus Bahrain: «Wie wird die Schweiz reagieren, wenn eine Revolution in Saudi-Arabien ausbricht? Wird sie dann auch die Demokratiebewegung gegen das Regime unterstützen?» Peter Maurers Antwort: «Dafür haben wir keinen Plan.»
Die Schweizer Unterstützung für die Länder des arabischen Frühlings konzentriert sich zurzeit auf Tunesien und Ägypten.
Für den demokratischen Übergang werden in diesen Ländern rund 4 Mio. Fr. im Jahr eingesetzt. Prioritäten sind Wahlunterstützung, Schutz der Menschenrechte, Stärkung einer pluralistischen Zivilgesellschaft, Reform des Sicherheitssektors sowie eine rasche Rückführung der sich in der Schweiz befindenden, unrechtmässig erworbenen Gelder.
Für die wirtschaftliche Entwicklung, Schaffung von Arbeitsplätzen, Förderung von kleinen und mittleren Betrieben und die Verbesserung der Rahmenbedingungen werden jährlich 47 Mio. Fr. eingesetzt.
Die Rückkehr und Reintegration von Migranten und Migrantinnen, die bessere Einbindung der Diaspora und der Schutz von besonders exponierten Bevölkerungsgruppen wird mit jährlich 6 Mio. Fr. unterstützt.
Geplant ist ein Ausbau des bestehenden Programms in Marokko. Geprüft werden je nach Entwicklung Programme in Libyen und Algerien.
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