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Kriminelle Ausländer: Zankapfel mit der EU?

Die Europäische Union würde es wohl nicht schätzen, wenn sich das Gefängnis am Flughafen Zürich immer mehr füllte. Keystone

Am 28. November kommt die SVP-Initiative zur Ausschaffung krimineller Ausländern zur Abstimmung. Diese Massnahme verstösst gegen den bilateralen Vertrag über die Personenfreizügigkeit und könnte zu Unstimmigkeiten mit der Europäischen Union führen.

Nachdem 211’000 Unterschriften gesammelt worden waren – mehr als doppelt soviel, als nötig wären – kommt die Volksinitiative «für die Ausschaffung krimineller Ausländer» von der Schweizerischen Volkspartei (SVP) vors Volk, so wie dies die direkte Demokratie in der Schweiz vorsieht.

Wenn man den Umfragen, die vor Beginn der Kampagne durchgeführt wurden, Glauben schenkt, hat diese neuerliche härtere Gangart gegenüber Ausländern, die in der Schweiz leben, gute Erfolgschancen.

Expertenmeinung im Dezember

Die Europäische Union (EU) hat jedoch letzten Monat der Schweiz durch das Expertenkomitee des Europarates signalisiert, dass die Initiative der SVP im Widerspruch steht mit dem Abkommen über die Personenfeizügigkeit, das 1999 zwischen Bern und Brüssel abgeschlossen wurde.

Begeht ein Ausländer (also auch ein EU-Bürger) ein Delikt, das in der Initiative aufgeführt ist, dann würde er automatisch ausgeschafft. Diesen Widerspruch bestätigt Christine Kaddous, Leiterin des Zentrum für juristische Europastudien (Centre d’études juridiques européennes) der Universität Genf.

«Die Ausschaffung von Bürgern der EU ist eine Einschränkung der Personenfreizügigkeit. Eine solche Entscheidung kann nur angewendet werden, wenn sie auf der Gefährdung der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Sicherheit oder der öffentlichen Gesundheit beruht, so wie dies in den europäischen Verträgen und dem Abkommen über die Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der EU vorgesehen ist», erklärt sie.

Laut der Professorin für Europarecht können Mitgliedstaaten der EU oder die Schweiz Massnahmen für eine Ausschaffung treffen. «Die besondere Situation jedes Einzelnen muss jedoch berücksichtigt werden. Es muss ermittelt werden, je nach Fall, ob die nationale, öffentliche Ordnung über dem individuellen Interesse der betreffenden Person liegt, um vom Recht der Personenfreizügigkeit weiterhin profitieren zu können.»

Dies war für die Schweizer Regierung denn auch ausschlaggebend für die Ausarbeitung eines Gegenvorschlags, in dem die im bestehenden Gesetz vorgesehenen Gründe für eine Ausschaffung ausgeweitet werden. Gemäss Christine Kaddous sieht er vor, dass vor dem Entscheid über eine mögliche Ausschaffung die besondere Situation des Verurteilten geprüft wird, unter Einhaltung der von der Schweiz ratifizierten internationalen Verträge.

Eine Guillotine-Klausel

Wie würde Brüssel reagieren, wenn die Initiative des SVP angenommen würde? «Die Antwort ist sowohl juristisch wie auch politisch. Rechtlich müssen die Streitfälle zwischen der Schweiz und der EU im Rahmen des gemischten Ausschusses Schweiz – Europäische Union geregelt werden», erklärt Christine Kaddous.

Und – wenn der Streitfall nicht geregelt werden kann? «Handelt es sich um etwas Grundsätzliches, so Kaddous, kann eine der Vertragsparteien, in letzter Instanz, den Vertrag über die Personenfreizügigkeit auflösen. Dies gilt dann auch für die anderen bilateralen Abkommen der ersten Serie zwischen der Schweiz und der EU, da diese mit einer Guillotine-Klausel verbunden sind.»

Für Christine Kaddous birgt diese Initiative ein potentielles Risiko für die Schweizer Wirtschaft, «auch wenn in der Zeit zwischen der Abstimmung und der Auflösung des Vertrages viele Möglichkeiten bestehen, sich politisch zu arrangieren. Jedenfalls würde die Kündigung des Abkommens über die Personenfreizügigkeit die EU vor vollendete Tatsachen stellen und eine politische Entscheidung erfordern.»

Gemäss Economiesuisse besteht kein Risiko

Dieses Risiko scheint Economiesuisse, den Schweizer Arbeitgeberverband, nicht zu beunruhigen. Falls die Initiative angenommen würde, so ein Mitglied des Verbandes, das anonym bleiben möchte, hätte die Initiative noch einen langen Gesetzes-Parcours vor sich.

Economiesuisse hat deshalb offiziell beschlossen, sich weder finanziell noch öffentlich für den Gegenvorschlag über die Ausschaffung von kriminellen Ausländern zu engagieren.

Der Arbeitgeberverband beruft sich auf seine Statuten und vertritt die Meinung, die Abstimmung betreffe die öffentliche Sicherheit und das Strafrecht und nicht die Wirtschaft, präzisiert aber, dass die Akteure der Wirtschaft sehr wohl Position beziehen können.

Deshalb empfiehlt Economiesuisse die Annahme des Gegenvorschlags des Bundesrats, der die internationalen Verpflichtungen der Schweiz, darunter die Abkommen mit der EU, berücksichtigt.

Die Unterstützung des bundesrätlichen Gegenvorschlags wird auch vom Verbündeten der Wirtschaft, der Freisinnig-demokratischen Partei (FDP. Die Liberalen), getragen.

Hingegen betont auch die SVP, die Partei des ehemaligen Patrons der EMS-Chemie und Volkstribuns Christoph Blocher, die Interessen der Wirtschaft zu verteidigen. Sie glaubt kaum an eine heftige Reaktion aus Brüssel, denn, so die SVP, «die Mitgliedstaaten der EU haben schliesslich auch kein Interesse daran, sich gefährlicher krimineller Ausländer entledigen zu müssen».

Zudem erinnert die SVP an eine Richtlinie der Europäischen Union, die verlangt, dass die auszuschaffende Person eine «unmittelbare und beträchtliche Gefahr» darstellt. Diese Richtlinie lässt, so die SVP, genügend Ermessensspielraum für eine relativ strenge Praxis.

Die grösste Partei der Schweiz bekräftigt, dass die Initiative «mit den Grundsätzen des Abkommens über die Personenfreizügigkeit konform ist, dass gefährliche Deliquenten ausgeschafft werden können».

Gemäss René Schwok, Politologe aus Genf, ist die Schweiz Antragstellerin für weitere bilaterale Abkommen.

Sie wünscht, dass Brüssel von der Übernahme des gemeinschaftlichen Besitzstandes absieht, was neue Abkommen betrifft.

Brüssel hält jedoch entschieden an dieser automatischen Übernahme fest.

«Wenn die Initiative der SVP durchkommt, kann sie der Kommission oder den Mitgliedstaaten als Vorwand dienen, im Rahmen von aktuellen Diskussionen Druck auf die Schweiz auszuüben», hebt der Europaspezialist hervor

In Anbetracht der steigenden Zahl von EU-Mitgliedstaaten, die von xenophoben und populistischen Tendenzen erfasst werden, sei es nicht sicher, dass die EU der Schweiz eine Lektion erteilen würde, meint René Schwok.

Wenn der Verstoss gegen das Abkommen über die Personen-Freizügigkeit im Einführungsgesetz der Initiative stehen müsste, könnte er, gemäss Schwok, bei einem Streitfall eine Schaffung eines juristischen Mechanismus begünstigen und zu einem Thema für den gemischten Ausschuss Schweiz EU werden.

Bei den Anhängern des Gegenvorschlages zur Ausschaffungs-Initiative sind die Bilateralen auch ein Thema.

Die freisinnig-demokratische Partei (FDP. Die Liberalen) warnt vor den Konsequenzen bei Annahme der Initiative.

Die Meinung der Liberalen, vertreten durch den Zürcher Professor Tobias Jaag, unterstreicht, dass die Initiative mit den bilateralen Abkommen über die Personen-Freizügigkeit nicht vereinbar sei.

Die Personen-Freizügigkeit erlaubt Ausschaffungen nur, wenn die öffentliche Ordnung oder Sicherheit in Gefahr ist.

Bei Annahme der Initiative wird die Europäische Kommission intervenieren, davon ist alt Botschafter Christian Blickenstorfer überzeugt.

Brüssel habe Frankreich bei der Ausschaffung der Roma auch zur Ordnung gerufen.

Mit Gegenmassnahmen ist zu rechnen, insbesondere im Steuerbereich.

(Übertragung aus dem Französischen: Christine Fuhrer)

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