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«KrisenKompass» für kritische Schulsituationen

Mit dem "KrisenKompass" sollen sich Schulen, Lehrpersonen und Behörden auf Krisen vorbereiten können. Keystone

Mit einem "KrisenKompass" sollen sich Schulen, Lehrpersonen und Behörden auf Krisensituationen vorbereiten können. Die Publikation ist eine Folge von Amokläufen und Drohungen in Schulen, die in der Vergangenheit wiederholt für Schlagzeilen gesorgt haben.

Grosskrisen wie ein Amoklauf oder viel häufigere Probleme wie Suizid, Mobbing oder Gewaltandrohung: Das Klima an Schweizer Schulen sei rüder geworden, sagte Beat W. Zemp, Zentralpräsident des Dachverbandes Schweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH) bei der Präsentation des Handbuchs in Bern. Die Schwelle für Gewalttaten gegenüber Lehrpersonen und Schülern sei gesunken.

Deshalb, und weil in den Schulen ein Bedürfnis nach Handlungsorientierung bestehe, habe der LCH zusammen mit dem Schulverlag plus den «KrisenKompass» herausgegeben, ein Handbuch für Gewaltprävention, Krisenintervention und Trauerbegleitung in Schulen. Erarbeitet wurde das Buch in Form eines Ordners von edyoucare, der Internationalen Fachstelle für Gewaltprävention, Krisenintervention und Trauerbegleitung.

Die Publikation bietet Orientierung im Umgang mit Krisen, mit denen heute laut Zemp jede Lehrperson ein- oder mehrmals in ihrer Berufslaufbahn zu rechnen hat: Sucht, Selbstverletzung, Mobbing, Essstörungen, Vandalismus, Androhung von Gewalt und Suizid. Fast jede Woche sei eine Schule in der Schweiz von einem Suizid eines Schülers betroffen.

Handbuch allein genügt nicht

Es genüge aber nicht, wenn nun jede Schule das Handbuch besitze, sagte LCH-Zentralsekretärin Franziska Peterhans gegenüber swissinfo.ch.

«Wir fordern, dass in schwierigen Situationen Kriseninterventionsteams bereitstehen. Wir fordern aber auch, dass Lehrpersonen endlich genügend Zeit und Weiterbildung erhalten, um die grösseren und kleineren Krisen ihrer Schülerschaft wirklich managen zu können – entweder selber oder in Zusammenarbeit mit Fachpersonen.»

Und dann sei da noch etwas sehr Wichtiges, das jetzt begonnen habe, aber nicht flächendeckend vorhanden sei: «Die Einführung von Schulsozialarbeit, die einige dieser mittleren oder kleineren Krisen gut auffangen kann.»

Medien auch in der Verantwortung

Bei Krisenfällen wie Amoklauf oder Tötung bestehe die Gefahr einer «Übermediatisierung», so Peterhans. «Schule und Medien haben da eine grosse Verantwortung, wie solche Krisen kommuniziert werden sollen.»

Einerseits müssten Schulen ein Konzept haben, wie man in solchen Ausnahmekrisen mit den Medien umgehen soll. «Aber auch die Medien sind aufgefordert, das ganze nicht reisserisch und sensationslüstern darzustellen. Denn man weiss, dass es gerade im Bereich Amok eine gewisse Imitationsgefahr gibt.»

Schweiz kein Sonderfall

Franziska Peterhans betonte, in der Schweiz hätten wir die glückliche, vielleicht auch zufällige Situation, dass noch nie ein Amoklauf passiert sei im Schulbereich, im Gegensatz zu Deutschland oder Finnland. «Amok-Drohungen sind aber auch bei uns schon aufgetaucht – eine neuere Entwicklung. Es könnte in der Schweiz ebenso passieren.»

Bezüglich Gewalt gebe es Schulen, die absolut gewaltfrei und friedlich funktionierten. «Wir haben aber auch Schulen, an denen Gewalt ein riesiges Problem ist. Es ist weniger eine Frage des Landes als eine Frage von unterschiedlichen Schichten, ob es sich um eine multikulturelle und zugleich bildungsferne Schülerschaft handelt oder nicht», so Peterhans.

Es gebe aber auch da Ausnahmen, es komme sicher auch auf das Klima der Schule und noch andere Faktoren an. «Aber am ausschlaggebendsten sind sicher die unterschiedlichen Schichten.» Deshalb sei die Integrationsarbeit so wichtig, «weil das gegenseitige Verständnis wegen der unterschiedlichen, fremden Kulturen schwierig ist».

Laufend aktualisierter «KrisenKompass»

Der «KrisenKompass» ist eine Art Lehrmittel für die Lehrpersonen. Die zum Buch gehörende Internetseite wird zudem laufend aktualisiert und ergänzt. So sei es möglich, dass auch neue Phänomene wie Killerspiele oder der Handygebrauch zum Filmen von sexueller Gewalt oder «stupid slapping» nach neuestem Wissen thematisiert würden, sagte Projektleiter Christian Randegger.

Das Spezielle am «KrisenKompass» sei, dass eine Vielzahl der häufigsten Krisen im Schulalltag aufgegriffen werde. «Das heisst, man konzentriert sich nicht auf die Spitze des Eisbergs, den allfälligen Amoklauf, den allfälligen Tötungsfall. Man schaut früher hin, wo bereits die Sicht getrübt ist, wenn randaliert, gemobbt, gedroht, geschlagen wird», so Randegger gegenüber swissinfo.ch.

Der «KrisenKompass» wird zunächst nur auf Deutsch angeboten. In der Romandie und im Tessin werde noch abgeklärt, ob ein Bedürfnis nach einer Übersetzung bestehe, hiess es. Das in seiner thematischen Breite bisher einzigartige Handbuch wird demnächst für Deutschland und Österreich adaptiert.

Jean-Michel Berthoud und Urs Geiser, swissinfo.ch

Der Dachverband Schweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH) fordert für jeden Kanton ein Team, das den Schulen und Lehrern bei Krisensituationen zur Seite steht. Klassenlehrer müssten zudem mehr Zeit für die Früherkennung und Prävention erhalten.

Laut LCH-Präsident Beat W. Zemp gibt es in einigen Kantonen bereits Kriseninterventionsteams. Die Teams bewährten sich: In St. Gallen komme das Team jährlich in rund 100 Fällen zum Einsatz.

Lehrpersonen müssten bei Krisen erkennen, wo ihre Grenzen lägen. Wenn etwas nicht mehr in die Zuständigkeit eines Lehrers falle, müsse er sich an eine Fachperson wenden können, so Zemp. Die Schule könne nicht alles selbst leisten, deshalb müssten die Interventionsteams aufgebaut werden.

Solche Teams müssten nach dem Willen des LCH mit Spezialisten aus verschiedenen Gebieten wie Psychologie, Seelsorge, Medizin oder Recht bestückt sein. Sie müssen den Schulen quasi rund um die Uhr zur Verfügung stehen. Um heikle Situationen frühzeitig ausmachen zu können, müssten aber auch die Klassenlehrer mehr Verantwortung übernehmen. Dafür sollten sie aber zeitlich entlastet werden.

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