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Libyen und sein verletzter Nationalstolz

Muammar Gadhafi gilt als unberechenbar. Reuters

Für Islamwissenschafter Reinhard Schulze von der Universität Bern markieren Libyens Aktionen gegen die Schweiz den Stellenwert der Familie Gadhafi sowie den Nationalstolz. Die politische Krise könnte nach seinen Einschätzungen noch eine Zeitlang andauern.

Das Schweizer Aussenministerium zeigt sich besorgt über die Inhaftierung von zwei Schweizer Staatsangehörigen in Libyen. Eine Schweizer Delegation ist am Freitag zurückgekehrt, ohne vor Ort Erfolge erzielt zu haben.

Zuvor hatte Tripolis die Schliessung von Schweizer Firmen in Libyen angeordnet und die Ausstellung von Visa für Schweizer Bürger gestoppt.

In Libyen leben rund 40 Auslandschweizer, die meisten von ihnen Doppelbürger.

Tripolis verlangt von der Schweiz eine Entschuldigung für die Festnahme von Hannibal Gadhafi und dessen Frau.

swissinfo: Wie ernst ist die Situation?

Reinhard Schulze: Die Lage ist ernst, weil es sich um eine Krise in den bilateralen Beziehungen handelt. Die Möglichkeiten, eine Lösung zu finden, sind beschränkt. Ich glaube, die Krise wird sich noch über einige Wochen hinziehen.

swissinfo: Wie erklären Sie sich die sehr harte Reaktion Libyens auf die Festnahme von Hannibal Gadhafi?

R.S.: Die libysche Regierung geht davon aus, dass die Mitglieder der Familie Gadhafi im Prinzip Immunität geniessen. Die Familie repräsentiert also eigentlich die libyische Nation.

So wird die vorübergehende Festnahme von Hannibal Gadhafi in Genf – auch wenn es nur zwei Tage waren – als ein Angriff auf die Rechtsmässigkeit der Herrscherfamilie interpetiert, ist also folglich eine Beleidigung des gesamten libyschen Volkes.

swissinfo: Wie steht es um die Schweizer Bürger und Firmen in Libyen? Zwei Staatsbürger sitzen bereits in Untersuchungshaft.

R.S.: Die Lage ist sehr schwierig, weil die libysche Regierung versucht, die Sprache der westlichen Welt zu benutzen. Sie behauptet, die Strafverfolgung erfolge unabhängig von der Regierung, es handle sich um Gewaltentrennung.

Den beiden inhaftierten Schweizern wird vorgeworfen, gegen das libysche Einwanderungsgesetz verstossen zu haben. Dies ermöglicht der Regierung zu sagen: ‹Sorry, wir können nichts tun für Euch, da ein Strafverfahren nicht unter die Kontrolle der Regierung fällt›.

Die Situation gleicht also jener in der Schweiz, wo die Regierung erklärte, es bestehe keine politische Möglichkeit, das Strafverfahren zu beeinflussen, das von den Behörden in Genf eingeleitet wurde.

swissinfo: Wie weit wird Libyen mit seinen Aktionen gehen?

R.S.: Das ist schwierig vorauszusagen. Es ist typisch für die libysche Regierung, den Konflikt mit Hilfe interner Institutionen zu inszenieren. So ist es die Hafenbehörde der staatlichen Reederei, welche die Drohungen im Zusammenhang mit den Ölexporten ausspricht.

Es ist nicht die Regierung, und auch nicht die nationale Ölgesellschaft, welche die libysche Ölproduktion kontrolliert. Die libysche Regierung versucht, sich herauszuhalten und das Problem in die libyschen Gesellschaft zu tragen.

swissinfo: Welche Lehren können aus dieser Krise gezogen werden?

R.S.: Libyen ist ein Land, das in den letzten Monaten und Jahren versucht hat, wieder etwas wie Vertrauen herzustellen. Das Land wollte internationale Anerkennung für seine Politik. Es wird aber offensichtlich, dass Vertrauen das eine, Libyen aber etwas anderes ist.

Die Lage könnte für Libyen viel schwieriger werden als für die Schweiz, weil die Wirtschaftsbeziehungen mit Libyen vom Mass des Vertrauens abhängen, das in die Beziehungen investiert wird.

Das Vertrauen in Libyen wird Schaden nehmen – bezüglich Land, System sowie politische und wirtschaftliche Freiheit.

swissinfo-interview: Isobel Leybold-Johnson
(Übertragung aus dem Englischen: Gaby Ochsenbein)

Libyen ist ein wichtiger Handelspartner der Schweiz und ihr grösster Rohöl-Lieferant.

Die politischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern normalisierten sich, als die UNO-Sanktionen 2003 gegen das nordafrikanische Land aufgehoben wurden.

Libyen gehört zu den 5 wichtigsten Exportmärkten auf dem afrikanischen Kontinent.

Hannibal Gadhafi, Sohn des libyschen Staatschefs Muammar Gadhafi, und seine Ehefrau waren vor zwei Wochen im Genfer Luxushotel «President Wilson» verhaftet worden.

Zwei Bedienstete verklagten das Paar wegen einfacher Körperverletzung, Drohung und Nötigung. Die beiden wurden zwei Tage später gegen Kaution freigelassen.

Libyen reagierte umgehend mit Vergeltungsmassnahmen: Es beordnete seine diplomatischen Vertreter in der Schweiz zurück, reduzierte die Zahl der Flüge und stellt Schweizer Bürgern keine Visa mehr aus.

Zudem kündigte Libyen an, alle Öllieferungen für die Schweiz würden gestoppt.

Im weiteren wurden zwei Schweizer Staatsangehörige in Libyen wegen Verletzung der Einwanderungs-Vorschriften inhaftiert.

Bundespräsident Pascal Couchepin hat sich wegen der schweizerisch-libyschen Krise zu direkten Gesprächen mit dem libyschen Staatschef Muammar Gadhafi bereit erklärt. «Ich bin Bundespräsident und mache alles, was unserem Land nützt», sagte er in einem Interview der Zeitung Blick.

Am Westschweizer Fernsehen hatte der Bundespräsident erklärt, die Zeit für eine Verurteilung Libyens durch den Gesamtbundesrat sei nicht gekommen. Es gehe im Gegenteil darum, Mittel und Wege für eine Beruhigung der Situation zu finden.

swissinfo.ch

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