Libyen verstärkt Druck auf die Schweiz
Mit dem von Libyen vermeldeten Rückzug von Vermögenswerten und dem Stopp von Öllieferungen ist eine neue Runde im Prestige-Kampf zwischen den beiden Ländern eingeläutet worden, sagt der Sicherheitsexperte Kurt Spillmann.
Laut einem Bericht der staatlichen libyschen Nachrichtenagentur, der angeblich auf Aussagen aus dem Aussenministerium basiert, ist der Abzug der Gelder die Vergeltung für die schlechte Behandlung von libyschen Diplomaten und Geschäftsleuten durch die Genfer Polizei.
Die diplomatischen Spannungen zwischen beiden Ländern begannen im Juli nach der Festnahme eines Sohnes des libyschen Führers Moammar Gaddafi in Genf.
Die Entscheidung zur Einstellung der Öllieferungen ist laut Issam Zanati, Direktor der libyschen Ölgesellschaft Tamoil, von der libyschen Regierung gefällt worden, nicht von seiner Firma.
Milliarden abgezogen
Gegenüber einer Nachrichtenagentur sagte Farhat Qadara, der Chef der libyschen Zentralbank, Libyen hätte all seine Guthaben auf Schweizer Banken abgezogen und auf andere Banken in Europa überwiesen.
Gemäss der Schweizerischen Nationalbank lagen Ende 2007 auf Schweizer Banken Guthaben aus Libyen in der Höhe von 5,784 Mrd. Franken. Hinzu kamen Treuhandanlagen in der Höhe von 812 Mio. Franken.
Die libyschen Guthaben wurden innerhalb eines Jahres um gut eine Milliarde aufgestockt. Die Guthaben der Schweizer Banken in Libyen beliefen sich umgekehrt Ende 2007 auf lediglich 111 Millionen Franken.
Keine offizielle Bestätigung
Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) erklärte, es lägen ihm noch keine offiziellen Informationen Libyens über die neuen Retorsionsmassnahmen gegen die Schweiz vor. Zudem sei die Schweiz ein Rechtsstaat; sie müsse ihre Verfassung achten und sei zu einem rechtmässigen Vorgehen verpflichtet.
Das EDA führe seine «Anstrengungen weiter, um die Probleme zu lösen, welche die bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und Libyen belasten».
Und Bundespräsident Pascal Couchepin sagte am deutschsprachigen Radio, er wisse nicht, ob sich diese Berichte auf Worte oder auf Handlungen bezögen. Zur Zeit sei die Lage auf dem Ölmarkt nicht angespannt, es gebe genug Öl. Also habe das ganze wahrscheinlich keine grosse Wirkung. Trotzdem, hielt er fest, dürften solche Massnahmen niemals auf die leichte Schulter genommen werden.
Prestige-Auseinandersetzung
Für Kurt Spillmann, ehemaliger Ordinarius für Sicherheitspolitik und Konfliktforschung an der ETH Zürich, ist dieser Zug Libyens «eine neue Runde im Prestige-Kampf zwischen Gaddafi und der Schweiz».
Gaddafi fühle sich von der Schweiz nach wie vor gedemütigt und er versucht auf diese Weise eine offizielle Entschuldigung der Schweiz zu erreichen», sagte Spillmann gegenüber swissinfo.
Er sieht im Moment keinen anderen Grund für Gaddafis Handeln. Gaddafis Sohn Hannibal und dessen Frau waren vor drei Monaten in einem Genfer Luxushotel verhaftet worden, weil sie zwei ihrer Bediensteten misshandelt haben sollten.
Libyen ergriff damals eine Reihe von Massnahmen gegen die Schweiz, unter anderem rief es seine Diplomaten aus der Schweiz zurück und es inhaftierte zwei Schweizer Geschäftsleute in Libyen, welche später wieder freigelassen wurden. Sie müssen sich aber weiterhin in Libyen aufhalten.
Darüber hinaus stoppte Libyen seine Öllieferungen in die Schweiz. Die Schweiz bezog 2007 rund 56% ihrer Rohöllieferungen aus Libyen. Der Anteil Libyens an den gesamten Ölimporten in die Schweiz entspricht etwa 20%.
Obwohl die Anklage gegen Gaddafis Sohn und dessen Ehefrau von den Genfer Behörden fallen gelassen worden war, hat Libyen eine Entschuldigung der Schweiz gefordert.
«Die offiziellen Verhandlungen laufen immer noch. Sie gehen momentan nicht in eine besondere Richtung. Vielleicht ist Gaddafi unzufrieden mit dem Verhandlungsverlauf, weil die Schweiz sich zu wenig in seine Richtung bewegt», meint Spillmann.
Zusammenprall der Kulturen
Spillmann ist der Auffassung, dass hinter den Spannungen ein Kampf der Kulturen steht. Die Schweiz müsse den islamischen und arabischen Kontext berücksichtigen, sowie die persönliche und die Familienehre.
Eine Entschuldigung könnte die Schweiz jedoch in eine schwierige Situation bringen, denn sie habe nur entsprechend ihrer Rechte und Gesetze gehandelt.
«Trotzdem wäre es klug, wenn die Schweiz einen Weg finden würde, sich offiziell zu entschuldigen, der für Gaddafi akzeptabel wäre und die grundlegenden Überzeugungen und Werte der Schweiz trotzdem achtet.
Spillmann sieht im Moment kein Ende der Spannungen. Ich weiss nicht, wie weit Gaddafi die Situation eskalieren lassen will.»
Spillmann und andere Experten sind wie die Landesregierung der Ansicht, Libyens Entscheidung zum Öllieferstopp und zum Rückzug seiner Vermögenswerte werde keine starke Wirkung auf die Schweiz haben.
Auch für Rolf Hartl, den Geschäftsführer der Schweizerischen Erdölvereinigung, ist keine Versorgungslücke spürbar. Die Importeure seien in der Lage, Öl von anderen Lieferanten zu beziehen.
swissinfo und Agenturen
2007 war Libyen der wichtigste Handelspartner der Schweiz in Afrika – noch vor Südafrika und Nigeria – mit einem Gesamtvolumen von 1,937 Mrd. Franken.
Über die Hälfte der Schweizer Rohölimporte (2007: 56%) kommen aus Libyen.
Die Schweizer Handelsbilanz gegenüber Libyen ist negativ. Im letzten Jahr weist sie einen Negativsaldo von 1,3 Mrd. Fr. aus. Dies ist auf die Öleinfuhren zurückzuführen (1,7 Mrd. Fr.)
Die Schweizer Exporte ( 2007: 280 Mio.) bestehen hauptsächlich aus Maschinen sowie Pharma- und landwirtschaftlichen Produkten.
Eine der zwei Erdölraffinerien in der Schweiz und ein Netz von 350 Tankstellen befindet sich in der Hand der libyschen Tamoil.
Die politischen Kontakte zwischen Bern und Tripolis normalisierten sich 2003, nach der Aufhebung der von den Vereinten Nationen Sanktionen.
1997 verweigerte Tripolis Schweizer Bürgern die Einreise, weil die Schweiz einem Sohn von Oberst Gaddafi keine Studentenvisum gewährt hatte. Im Gegenzug verschärfte die Schweiz die Einreisebestimmungen für libysche Staatsangehörige. Der Konflikt wurde im April 1998 gelöst.
In Libyen leben ungefähr 40 Schweizer Staatsangehörige, von denen die meisten Doppelbürger sind.
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