Schweizer Lokaldemokratie in der grossen Depression
Hätte die Lokaldemokratie in der Schweiz eine Seele, so bräuchte sie dringend Antidepressiva: 2016 hat die Beteiligung an Gemeindeversammlungen – seit 30 Jahren im Abwärtstrend – einen neuerlichen Tiefpunkt erreicht.
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«Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst»: Dieses Bonmot ungeklärter Herkunft würde sich sehr gut in einem Krankenbericht machen. Name des Patienten: Lokaldemokratie Schweiz.
Das Krankheitsbild: Patient leidet an besorgniserregendem Schwund an Teilnehmerinnen und Teilnehmern. In Schweizer Gemeinden mit 2000 bis 5000 Einwohnern gingen 2016 im Schnitt nur noch 4,6% der Stimmberechtigten an die Gemeindeversammlung.
Diese ist gewissermassen die Wiege der direkten Demokratie in der Schweiz: Dort bestimmen die Bürgerinnen und Bürger über Steuern, Schule, Strassen, Schwimmbad oder Soziales, kurz: wie das Leben im Ort, in dem sie leben, organisiert ist.
Wenn zwei Prozent bestimmen
Punkto Teilnahme gibt es eine frappierende Gesetzmässigkeit: Je grösser eine Gemeinde, desto kleiner die Partizipation. In Gemeinwesen mit weniger als 250 Einwohnern gingen im Stichjahr 2016 immerhin noch 21,5% an die Gemeindeversammlungen. In den grössten Gemeinden, dies sind jene mit 10’000 bis 20’000 Einwohnern, waren es dagegen noch winzige 2,1%.
Das Bedenkliche daran: Die Werte sind die Endpunkte von Kurven, die seit der ersten landesweiten Befragung der Gemeindeschreiber 1988 nach unten zeigen. In dieser Spanne hat sich die Teilnahme praktisch halbiert.
Erleben wir also in baldiger Zukunft ein Lichterlöschen in den Turn- und Mehrzweckhallen oder Gemeindesälen, den traditionellen Bühnen der Lokaldemokratie in der Schweiz? Und das in der Schweiz, die vom Ausland gern als Musterknabe in Sachen Demokratie gelobt wird.
Die Gründe, die Fachleute für das schwindende Interesse an Lokalpolitik ins Feld führen, kreisen um folgende Punkte: schwindende Identifizierung mit der Wohngemeinde, Individualisierung sowie Sachthemen mit wenig persönlichem Bezug.
Demokratisch legitimiert?
Sind Entscheide demokratisch überhaupt noch legitimiert, wenn nur zwei Prozent der Stimmberechtigten oder noch weniger beteiligt waren? Bei normalen Geschäften sei dies kein grosses Problem, sagt Politikwissenschaftler Andreas Ladner, Professor am Institut für Öffentliche Verwaltung der Universität Lausanne, welches das Gemeindemonitoring zusammen mit der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaft durchführt.
Anders sieht es bei Sachentscheiden von grösserer Tragweite sowie Verfahrensfragen aus: Darüber sollten die Bürger an der Urne abstimmen. Der Gemeindespezialist weist auch darauf hin, dass strittige Entscheide der Gemeindeversammlung in der Regel mit einem Referendum in Frage gestellt und in einer Urnenabstimmung korrigiert werden könnten.
Gemeindeparlament kein Heilsbringer
Einige Gemeinden suchen Heilung in einer Radikalkur, in dem sie die Gemeindeversammlung zu Grabe tragen und durch ein Gemeindeparlament ersetzen. Über dessen Entscheide stimmen dann die Bürger an der Urne ab.
So sinkt zwar der persönliche, direkte Kontakt der Einwohner zu den Behörden und Institutionen – und den Mitbürgern. Aber die Stimmbeteiligung beträgt meist ein Mehrfaches der Beteilung an der abendlichen Versammlung in der örtlichen Turnhalle.
Die Semi-Professionalisierung der Lokalpolitik mit Gemeindeparlamenten ist aber keineswegs ein Allerheilmittel. Mehrere Gemeinden haben den Schritt wieder rückgängig gemacht und sind zur Gemeindeversammlung zurückgekehrt.
Es gibt Hoffnung
Es gibt aber noch andere Rezepte, um dem Abwärtstrend entgegen zu treten. Und die geben durchaus Anlass zu Hoffnung. In der Gemeinde Zeneggen im Kanton Wallis etwa haben die Behörden die Ärmel hochgekrempelt und sind mit einer neuen Idee aktiv auf die Einwohner zugegangen: Sie haben alle Bewohner zu einem so genannten ZukunftstagExterner Link eingeladen. Unterstützt wurden sie dabei von Fachleuten des Schweizerischen Gemeindeverbandes.
An der Zukunftskonferenz mit betont informellem Charakter konnten die Bürger – frei von den Zwängen des politischen Alltags – Szenarien entwerfen, um das Leben im Ort für alle besser zu gestalten.
Der Erfolg sei gross gewesen, habe doch rund ein Viertel der Bevölkerung Zeneggens mitgemacht, sagte Judith Wenger vom Gemeindeverband.
Zuvor habe die Gemeindepolitik die Bevölkerung im Ort kaum mehr erreicht. So seien seit 2005 alle Gemeindeämter jeweils in stiller Wahlen besetzt worden, so Wenger weiter.
Am Ende des Tages habe eine veritable Aufbruchstimmung geherrscht, und alle seien sich einig darüber gewesen, weitere Zukunftstage abzuhalten.
Der Autor auf TwitterExterner Link.
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