«Luftwaffe hat Abmagerungskur schon gemacht»
Der Bundesrat will erst im Frühling über den milliardenteuren Kampfjet-Kauf entscheiden. Der frühere Kommandant der Luftwaffe, Fernand Carrel, plädiert für neue Jets und verweist auf das exemplarische Sparprogramm der Luftwaffe in den letzten Jahren.
swissinfo.ch: Laut dem ehemaligen Generalsekretär des Verteidigungsdepartements, Hans-Ulrich Ernst, ist die Beschaffung neuer Kampfjets zum jetzigen Zeitpunkt nicht notwendig. Was sagen Sie dazu?
Fernand Carrel: Um im Krisenfall die Sicherheit zu garantieren, müssen wir rund um die Uhr vier Flugzeuge in der Luft haben, das heisst 16 pro Tag. Wegen Wartungs- und Instandhaltungsarbeiten ist die F/A-18-Flotte bei einem 24-Stunden-Einsatz nach einem Monat erschöpft.
Mathematische Modelle haben nun gezeigt, dass mit der Beschaffung von 22 modernster Kampfflugzeuge wie Rafale, Gripen oder Eurofighter diese Einsatzbereitschaft mehr als verdoppelt werden kann.
swissinfo.ch: Was wäre denn ein plausibles Gefahrenszenario?
F.C.: Zwei der wichtigsten Luftstrassen Europas führen durch die Schweiz. Pro Tag werden durchschnittlich 4700 Flugbewegungen gezählt – die Schweiz hat damit die grösste Flugverkehrsdichte auf unserem Kontinent.
Ohne von einem eigentlichen Konflikt zu sprechen, welcher mindestens mittelfristig sehr unwahrscheinlich scheint, muss man sich fragen: Wie würde man europaweit reagieren, wenn die wichtige Ost-West- und Nord-Süd-Luftstrasse durch die Schweiz nicht mehr verfügbar wäre oder mit bösen Absichten genutzt würde?
Die Luftwaffe macht im Luftraum das, was die Kantonspolizei auf dem Strassennetz durchführt.
swissinfo.ch: Die deutsche Luftwaffe fliegt im Auftrag der Nato Luftpolizei-Missionen über dem Baltikum mit vier Eurofightern. Österreich, das einen rund zwei Mal so grossen Luftraum wie die Schweiz aufweist, kommt mit 15 Eurofightern aus. Der Kampfjet-Bestand der Schweizer Luftwaffe scheint im Vergleich unverhältnismässig.
F.C.: Je kleiner der Luftraum und je kürzer die Reaktionszeit, desto höher die Ansprüche an die Luftwaffe.
Bis die vier in Littauen am Boden in Einsatzbereitschaft stehenden Eurofighter ein Zielobjekt identifizieren können, geht es mindestens 20 Minuten – in der Schweiz befände sich das entsprechende Objekt in dieser Zeit schon ausserhalb der Grenze.
Auch Österreich ist nicht das beste Beispiel, da es nicht unbedingt heisst, dass die 15 Eurofighter für dieses Land ausreichen.
Ich möchte da andere Beispiele anführen: Die deutsche Luftwaffe hat zurzeit 112 Eurofighter, 110 F4-Phantom und 187 Tornado, Grossbritannien verfügt über 380 modernste Jäger, Frankreich hat 390 Kampfjets, Italien 270.
Auch vergleichbare Staaten wie Belgien und Holland haben 71 bzw. 108 F16 MLU (Middle Life Update), Schweden verfügt über 137 Gripen, Dänemark über 48 F16 MLU.
swissinfo.ch: Ausser Schweden sind diese Länder jedoch im Vergleich zur Schweiz Nato-Mitglieder.
F.C.: Das hat keinen Zusammenhang. Man kann sich im Gegenteil sogar fragen, weshalb diese Länder Flugzeuge beschaffen und auf die Unabhängigkeit ihres Luftraumes setzen, wenn doch die Nato diese Aufgabe eigentlich übernehmen könnte.
swissinfo.ch: Reichen die 33 F/A-18 denn nicht für den Ernstfall?
F.C.: Man muss nicht einmal vom Ernstfall reden. Es genügt, die Luftraumüberwachung während Veranstaltungen wie etwa dem Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos oder der Euro08 in Betracht zu ziehen. Nach der Tragödie in New York vom 11. September 2001 hätte die Schweiz gar keine Teilnehmer für solche Anlässe mehr, wenn sie nicht den Schutz aus der Luft sicherstellen würde.
Die Luftwaffe ist nicht nur für die Überprüfung von Flugzeugen verantwortlich, sondern sie hilft auch Flugzeugen, die sich verflogen oder technische Schwierigkeiten haben. Gesamthaft gibt es über 400 solcher Einsätze pro Jahr.
swissinfo.ch: Hans-Ulrich Ernst spricht im Interview mit swissinfo.ch von einem exzessiven Worstcase-Denken bei der Luftwaffe. Sucht die Luftwaffe nicht einfach nach einem Berechtigungsgrund?
F.C.: In meinen Augen ist diese Äusserung an den Haaren herbei gezogen. Es würde mich interessieren, aufgrund welcher objektiven Analysen Herr Ernst zu dieser Folgerung kommt.
swissinfo.ch: Der Grund für die Beschaffung neuer Kampfjets seien Karrieren und Arbeitsplätze, sagt Ernst weiter. Was sagen Sie dazu?
F.C.: Die Luftwaffe versucht nur die notwendigen Mittel zu erhalten, um die Aufgaben zu erfüllen, die von Volk und Parlament bestimmt wurden.
swissinfo.ch: Rüstungsbetriebe wie etwa die bundeseigene Ruag profitieren auch von Kompensationsgeschäften. Welche Rolle spielen wirtschaftliche Interessen beim Kampfjet-Kauf?
F.C.: Vom F/A-18-Geschäft profitierten insgesamt 300 Unternehmen, insbesondere KMU. Es wäre ja wirklich schade, wenn unsere Wirtschaft nichts von solchen Investitionen für die Sicherheit unseres Landes hätte. Ich finde es sehr gut, dass das Parlament die Kompensationsgeschäfte verlangte.
Aber das ist sicher nicht der Grund, weshalb wir neue Kampfjets beschaffen müssen. Wenn die Schweizer Wirtschaft nur vom Kauf neuer Kampfjets abhängen würde, wäre das ja wirklich eine Katastrophe.
swissinfo.ch: Soll die Schweiz in der Finanzkrise auf Kosten von Bildung und Sozialwesen sparen, um Kampfjets zu kaufen?
F.C.: Im Jahr 1980 hatten wir über 500 Kampfjets, heute sind es noch 87 (33 F/A-18 und 54 Tiger).
1992 zählte die Luftwaffe 60’000 Armeeangehörige, heute sind es 27’600. Damals gab es 23 Militärflugplätze, heute verfügen wir noch über 7, wobei zwei davon mittelfristig ebenfalls geschlossen werden.
Man kann der Luftwaffe sicher nicht den Vorwurf machen, sie hätte ihre Abmagerungskur nicht durchgeführt. Wenn alle Departemente solche Einsparungen gemacht hätten wie die Luftwaffe, hätten wir heute weniger Probleme mit dem Haushaltsbudget.
swissinfo.ch: Gibt es eine Zukunft für die Luftwaffe?
F.C.: Wenn es keine Zukunft für die Schweizer Luftwaffe gibt, dann gibt es auch keine Zukunft für die Schweizer Armee. Denn eine Armee ohne Schutz im Luftraum ist nicht einsatzfähig. Das ist ja das, was sich die Gruppe für eine Schweiz ohne Armee GSoA wünscht.
Corinne Buchser, swissinfo.ch
Der Bundesrat will vorerst an der Beschaffung neuer Kampfflugzeuge festhalten, das Geschäft aber in einen engen Zusammenhang mit dem neuen sicherheitspolitischen Bericht stellen. Dieser soll bis kommenden Frühling vorliegen. Bis dahin bleibt auch ein Verzicht auf neue Kampfjets eine mögliche Option.
Die Evaluation unter den drei Typen Rafale, Eurofighter und Gripen laufe weiter, wie der Bundesrat am Donnerstag mitteilte.
Vorgesehen war ursprünglich die Beschaffung von 50, dann von 33 neuen Kampfjets. Später sollten es noch 22 Kampfjets für 2,2 Mrd. Franken sein, um die 54 veralteten Tiger-Kampfflugzeuge zu ersetzen.
Die Entscheidung des Bundesrats widerspricht der Ankündigung von Verteidigungsminister Ueli Maurer, der in der vergangenen Woche angeregt hatte, auf den Kauf neuer Kampfjets zu verzichten. Nicht, weil man diese nicht bräuchte, sondern weil es derzeit am Geld fehlt. Laut Maurer braucht die Armee jährlich 500 bis 700 Mio. Franken mehr.
Entschieden hat der Bundesrat am Donnerstag zudem, dass der Inhalt des sicherheitspolitischen Berichts des Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) in Absprache mit den anderen Departementen um einige Aspekte erweitert werden soll – etwa um die umstrittenen Auslandeinsätze der Schweizer Armee.
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