Massives Volks-Ja zum Bildungsraum Schweiz
Das Schweizer Schulsystem wird harmonisiert: 86% der Stimmenden haben die Bildungsreform an der Urne gutgeheissen. Das überwältigende Ja geht quer durch das Land.
Die Stimmbeteiligung betrug lediglich 27%. Die Änderung der Bildungsartikel in der Bundesverfassung war im Vorfeld kaum umstritten.
Ein eigentlicher Abstimmungskampf hatte nicht stattgefunden. Ein kleines rechtsbürgerliches Komitee hatte Widerstand wegen befürchteter Entmachtung der Kantone angemeldet. Auch die äusserste Linke in der Westschweiz hatte das Projekt bekämpft.
Entsprechend tief war mit lediglich 27% die Stimmbeteiligung. Erst einmal in der Geschichte des Bundesstaats war sie tiefer – vor 34 Jahren.
Alle Kantone haben die Reform gutgeheissen. Bern und Neuenburg erreichten mit je 93% den höchsten Ja-Stimmen-Anteil, Appenzell Ausserhoden und das Tessin mit je 59% den tiefsten.
Das klare Ja zur neuen Bildungsverfassung gehört zu den deutlichsten Volksentscheiden, die in den vergangenen 10 Jahren in der Schweiz gefällt wurden. Ähnlich hohe Ja-Anteile wurden nur noch bei den Abstimmungen über die Justizreform im März 2000 und die neuen Verfassungs-Bestimmungen über die Transplantationsmedizin im Februar 1999 erzielt. Diese beiden Vorlagen waren damals mit 86,4 beziehungsweise 87,8% Ja angenommen worden.
Freude bei der Landesregierung
Hoch erfreut zeigten sich die zuständigen Bundesräte Pascal Couchepin und Joseph Deiss. Nach vielen Niederlagen sei es dank guter Zusammenarbeit von Parlament, Kantonen und Bundesbehörden gelungen, eine breite Zustimmung zu den neuen Verfassungsartikeln zu erreichen, sagte Bildungsminister Couchepin. Der Bund werde sich aber hüten, den Kantonen «übereifrig» dreinzureden.
Für Wirtschaftsminister Deiss ermöglicht die neue Bildungsverfassung über die Kantonsgrenzen hinweg einen durchlässigen Bildungs-, Forschungs- und Innovationsraum Schweiz. So könne die Schweiz ihre Spitzenposition als Denkplatz sichern. Die Berufsbildung werde aufgewertet.
Engere Verflechtung der Hochschulen
Der Präsident der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren, Hans Ulrich Stöckling hofft, dass das geplante Konkordat der Kantone in 2 bis 3 Jahren über die Bühne gehen wird. Es gehe nun darum, die Eckpunkte festzusetzen.
Stöckling zeigte sich erfreut, dass nun eine zukunftsgerichtete Lösung vorliege, was 1973 noch gescheitert sei. Als wichtigen Punkt nannte er die engere Zusammenarbeit vor allem der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) mit den übrigen Hochschulen.
Auch was die Fachhochschulen betreffe, sei jetzt der Bund bezüglich einer Harmonisierung gefordert, sagte Stöckling.
Für das überparteiliche Ja-Komitee ist das Ja zur Bildungsreform Ausdruck eines sehr starken Willens in der Bevölkerung für eine Harmonisierung der Bildung auf nationalem Niveau. Die Zeit sei reif für einen kooperativeren Föderalismus.
Teil der internationalen Landschaft
Die Gegner der Bildungsverfassung befürchten nun einen Qualitätsverlust im Schweizer Schulsystem. Die Entscheidungskompetenzen würden weiter von den Direktbetroffenen an zentrale Stellen verlagert, sagte Oskar Freysinger, der Präsident des rechtsbürgerlichen Komitees.
Das Ja zur neuen Bildungsverfassung sei zu erwarten gewesen, sagte der Waadtländer Josef Zisyadis als Mitglied des linken Nein-Komitees. Ohne gegen eine Harmonisierung der Bildung zu sein, sieht er einen Verlust an Demokratie kommen.
Als einer der «Väter» der neuen Bildungsverfassung freut sich der sozialdemokratische Alt Nationalrat Hans Zbinden. In der Bevölkerung habe ein starker Mentalitätswechsel stattgefunden, sagte er. Die Bevölkerung sehe nämlich heute, dass die Schweiz Teil einer internationalen Bildungslandschaft sei.
Der Wirtschaftsdachverband economiesuisse würdigt das Ja als «klugen Entscheid». Denn damit werde die Bildungslandschaft Schweiz gestärkt, was in erster Linie Schülern, Studierenden und Personen in der Weiterbildung zugute komme.
Damit die Schweiz im internationalen Standortwettbewerb mithalten könne, müssten Bildung, Forschung und Innovation gestärkt werden.
Ende des «Kantönligeistes»
In der Schweiz ist die Bildung historisch kantonal geregelt. Jeder der 26 Kantone oder Halbkantone hat ein eigenes Schulsystem. Eintrittsalter, Schuldauer und Lehrplan weichen zum Teil weit voneinander ab.
Die Vereinheitlichung des Bildungssystems war schon lange Thema. Sie kam 1973 bereits einmal zur Abstimmung. Das Stimmvolk nahm sie damals zwar an, doch scheiterte sie knapp am Nein der Kantone, dem Ständemehr.
Die Pflicht zur Koordination und Zusammenarbeit in der Bildung ist einer der Kernpunkte der nun angenommenen Verfasssungsänderungen. Bund und Kantone sollen im gesamten Bereich der Bildung, vom Schuleintritt bis zur Universität, verschiedene Faktoren angleichen.
So sollen das Schuleintrittsalter, die Ausbildungsdauer, die Ziele der verschiedenen Bildungsstufen sowie die Anerkennung von Abschlüssen landesweit harmonisiert werden.
swissinfo und Agenturen
In der föderalistischen Schweiz unterstehen die öffentlichen Schulen der Hoheit der jeweiligen Kantone.
Die Grundsätze des Schulsystems sind in der Verfassung verankert. Bei Verfassungsänderungen bedarf es einer Zustimmung von Volk und Kantonen.
Alle Versuche einer Harmonisierung der 26 unterschiedlichen Schulsysteme scheiterten bisher am Widerstand der Kantone (Ständemehr).
Beispiele der Harmonisierung:
Kindergarten im ganzen Land
Gleiches Schuleintritts-Alter
Gleiche Dauer der obligatorischen Schulzeit (11 Jahre)
Gegenseitige Anerkennung von Diplomen zwischen Universitäten
Entwicklung von Bildungs-Standards
Koordination der Arbeit von universitären Forschungs-Instituten
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
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