Mehr als ein Pass: Gotthard als nationales Symbol
Der Hauptdurchstich im neuen Gotthard-Basistunnel am 15.Oktober wird ein ruhmreicher Tag für die Schweizer Verkehrspolitik. Doch das Fest wird auch eine identitätsstiftende Komponente haben, denn der Gotthard als "Dach Europas" gilt zugleich als historisch-mystische Wiege der Eidgenossenschaft.
«Die Bedeutung des Gotthards weist mehrere Phasen auf. Die Bedeutung für den internationalen Verkehr war während der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts gewaltig. Dann änderten sich die Routen und neue maritime Verkehrswege wurden erschlossen. Zwei Jahrhunderte später war die Erinnerung an den Gotthard als europäischer Kreuzungspunkt schon fast vergessen», sagt Jean-Daniel Morerod, Professor für mittelalterliche Geschichte an der Universität Neuenburg.
«Erst im 20.Jahrhundert wird der Gotthard wieder zu einer primären Transitachse für Güter durch Europa», fügt der Historiker an.
Der Fall der letzten Wand im Tunnelinnern des neuen Gotthard-Basistunnels wird mit Sicherheit ein grossartiges Fest für die Ingenieure, Mineure und Geologen sein. Aber die Bedeutung dieses Anlasses betrifft auch die Identität der Region.
So wie die Rütli-Wiese der angeblich historische Ort des Schwurs der ersten Eidgenossen ist und zum Ort des historischen Widerstands gegen die österreichischen Besetzer wurde, haftet dem St. Gotthard eine mythische Aura an, die ihn mit einem weiteren grossen Pass, dem Simplon, verbindet.
Symbol der Unabhängigkeit und Kohäsion
Im 18. und 19.Jahrhundert faszinierte der Gotthard viele Reisende, darunter Berühmtheiten wie Goethe und Schiller. Der französische Schriftsteller Alphonse de Lamartine – wie Schiller Autor eines «Wilhelm Tell» – spricht von einem «erdrückenden und schauderhaften Spektakel».
Im kollektiven Bewusstsein wurde die Gotthard-Region zunehmend ein Symbol für Unabhängigkeit, aber auch für die Kohäsion im Land. Ist der Gotthard doch ein wichtiger Kreuzungspunkt verschiedener Sprachen und Kulturen.
Warum diese Vermischung der Mythen? «Es gibt sicherlich eine Verbindung zwischen der wirtschaftlichen Bedeutung des Gotthards im 13. Jahrhundert und dem Aufstand der Urschweizer gegen die Habsburger», sagt Morerod. Uri habe einen gewissen Reichtum erwirtschaftet und auch kaiserliche Privilegien zur Kontrolle des Passes erhalten.
Die Mystifizierung der Entstehung der Eidgenossenschaft ist wahrscheinlich auch ein Abbild der mystischen Dimension der Gotthard-Region, die vermutlich durch die rein mündliche Überlieferungsform Veränderungen erfuhr. «Es gibt praktisch keine schriftlichen Quellen aus dieser Zeit, denn die Schreibkunst war in den Waldstätten zum Ende des 13.Jahrhundert noch nicht verbreitet», sagt der Historiker.
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Ein Mix von Ereignissen
Das «Weisse Buch von Sarnen» aus dem Jahr 1470 beinhaltet die erste Schilderung der Befreiung der Gemeinschaften am Gotthard, es beschreibt den Rütli-Schwur und Wilhelm Tell (um 1307). Damit ist es aber über 150 Jahre älter als die geschilderten Sachverhalte aus dieser aufreibenden Epoche.
Danach gibt es auch Darstellungen von Wilhelm Tell mit den Vätern der Eidgenossenschaft. Oder sogar mit Nikolaus von Flüe, der erst 1480 als Mediator der Eidgenossenen in Stans wirkte und dann Schutzpatron der Schweiz wurde.
«Wenn man über die Mythen zu schreiben beginnt, wird Nikolaus von Flüe als ethischer Garant präsentiert, der die Gewalt einzuämmen oder gar zu vermeiden hilft», analysiert Jean-Daniel Morerod.
Abschotten gegen aussen
Heute wird die Zentralschweiz gerne mit dem Begriff des «Réduit national» verknüpft, der im 20.Jahrhundert entwickelt wurde. «Der Tell-Mythos hat die Schweiz dazu gebracht, ihr Schicksal zu akzeptieren, sie aber gleichzeitig dazu ermuntert, sich als «Sonderfall» zu betrachten», betont Jean-Daniel Morerod.
Diese Idee des Réduit ist auch der Spiegel eines wenig offenen Bewusstseins. Eine kürzlich durchgeführte Umfrage hat gezeigt, dass die Schweizerinnen und Schweizer «gegenüber Veränderungen weniger aufgeschlossen sind als noch vor 10 Jahren.» Grund: Die Globalisierung, die Attentate vom 11.September 2001, das Grounding der Swissair und die Finanzkrise.
Der Historiker Morerod bestätigt die Entwicklung: «Auch wenn man gewisses Skrupel hat, dies einzuräumen, ist es sicher, dass die Mythen auch dazu dienen, die Bezogenheit der Schweiz auf sich selbst zu unterstreichen und Ausländern keine Macht zu geben. Ein gewisses Schicksal der Schwiez scheint sich in den Mythen ihrer Gründerväter anzukündigen. Deshalb interessieren sich auch so viele Leute für die Gründerzeit. Und einige politische Parteien scheinen dies sogar auszunutzen.»
Wilhelm Tell ist also noch nicht verschwunden. Ganz im Gegenteil: Der neue Gotthard-Basistunnel «lässt das Bedürfnis nach Mythen in der Bevölkerung neu erwachen», meint Marco Solari. Der Delegierte der 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft von 1991 hatte die Idee zu einer Alpenausstellung, die mittlerweile vom Kanton Tessin verfolgt wird.
Unter dem Namen «Gottardo 2020» soll nach der Inbetriebnahme des neuen Tunnels – vorgesehen für den Dezember 2017 – zwischen den Kantonen Tessin, Uri, Graubünden und Wallis ein grosses Fest gefeiert werden, das diese zentrale Region der Schweiz nachhaltig aufwertet.
Das Jahr 1291 hat man zum Ende des 19.Jahrhunderts als Geburtsjahr der Schweiz auserkoren, denn es ist das Jahr des Eidgenössischen Schwurs. Die ältesten Dokumente sprechen von einer Erneuerung der Allianz zwischen den Kantonen Uri, Schwyz (Namensgeber der Schweiz) und Nidwalden.
1315: Die drei Waldstätten (Urkantone) erneuern nach der siegreichen Schlacht von Morgarten gegen das habsburgische Heer ihre Alleanz mit dem Pakt von Brunnen.
1353: Die Eidgenossenschaft zählt acht Kantone
1481: Die Stanser Verträge werden dank der Mediation von Nikolaus von Flüe abgeschlossen. In der Folge expandierte der Bund der Eidgenossen bis 1513 auf dreizehn Orte.
Die Reform führt zu einigen Religionskriegen. Doch nach dem Dreissigjährigen Krieg und dem Westfälischen Frieden von 1648 wird die Unabhängigkeit der Schweiz offiziel anerkannt.
1798. Nach der französischen Revolution und der Invasion der Schweiz durch Napoleon wir das komplexe System der Schweiz aufgelöst
1815. Beim Wiener Kongress wird dank der Mediationsakte ein Staat von 22 Kantonen geschaffen
1848: Aus dem Sonderbundkrieg gehen die Liberalen als Sieger gegen die Konservativen hervor. Sie schaffen den modernen Bundesstaat mit 26 Kantonen.
Unter dem Namen Gottardo 2020 gibt es ein Projekt für eine Alpenausstellung im Gotthard-Gebiet nach der Inbetriebnahme des neuen Gotthard-Basistunnels im Dezember 2017.
Stattfinden könnte diese Ausstellung möglicherweise im Sommer 2018. In politischen Kreisen fand das Projekt aber nicht nur einheilige Zustimmung. Die Polemik um die Expo.02 wirft noch ihre Schatten.
Zentrale Idee von Gottardo 2020 ist es, das Gotthardgebiet durch nachhaltige Projekte zu beleben. Vier Eingangsportale sollen in den Kantonen Tessin, Graubünden, Wallis und Uri geschaffen werden. Thematisch sollen die Bereiche Kultur, Mobilität, Energie und Natur beleuchtet werden.
Aus dem Französischen: Gerhard Lob
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