Menschenrechte kommen vor Recht auf Mobilität
Eine Schweizer Delegation nimmt derzeit an der internationalen Konferenz für Biotreibstoffe im brasilianischen São Paulo teil. Im Interview mit swissinfo erläutert Energieminister Moritz Leuenberger die Haltung der Schweiz.
Die Konferenz, die unter dem Patronat des brasilianischen Präsidenten Lula da Silva steht, ist dem Thema «Biotreibstoffe als Vektor nachhaltiger Entwicklung» gewidmet.
Es ist das erste Mal, dass im Zusammenhang mit Biotreibstoffen kontroverse Themen wie Energiesicherheit oder Auswirkung auf die Lebensmittelversorgung auf Regierungsebene diskutiert werden.
Die Schweiz ist eines der ersten Länder, die Kriterien für eine nachhaltige Entwicklung der Absatzförderung für Biotreibstoffe auf Gesetzesstufe geregelt haben.
swissinfo: Sind Biotreibstoffe ein Problem oder eine Chance?
Moritz Leuenberger: Beides. Zu Beginn haben Bio-Treibstoffe Anlass zu viel Hoffnung gegeben. Doch heute merken wir, dass sie viel schädlicher sind, als man damals meinte.
Man kann das Problem der Bodennutzung für Lebensmittel nicht mehr ignorieren. Daher ist es notwendig, gewisse Fehler zu korrigieren und eine weltweite Bilanz zu ziehen.
Während die Europäische Union noch auf der Suche nach Kriterien zu einer Evaluation ist, haben wir in der Schweiz bereits solche etabliert, um festzustellen, ob die globale Bilanz positiv oder negativ ausfällt.
Nach unseren Kriterien müssen Biotreibstoffe weniger Schadstoffe enthalten als fossile Treibstoffe, dürfen die Biodiversität nicht schädigen und müssen die sozialen Bedingungen der Arbeitenden respektieren.
swissinfo: Dann muss man also zwischen verschiedenen Biotreibstoffen unterscheiden?
M.L.: Man spricht derzeit viel von der zweiten Generation der Biotreibstoffe, namentlich auf Basis von kompostierbaren Abfällen. Wenn diese nicht wirklich dazu genutzt werden können, um Menschen oder Tiere zu ernähren, dann wären sie eine echte Alternative.
Aber auch dann muss sichergestellt sein, dass diese Pflanzen nicht extra für die Verarbeitung zu Biotreibstoffen angebaut werden. Die Hauptrolle der Pflanzen ist es zu ernähren. Dieses Prinzip gilt es hochzuhalten.
swissinfo: swissinfo: Welchen Unterschied machen Sie zwischen Bioethanol aus brasilianischem Zuckerrohr und jenem aus Mais der USA?
M.L.: Im Prinzip ist das Ethanol aus Zuckerohr besser als jenes aus Mais. Ich bestehe aber darauf, dass auf eine globale ökologische Bilanz hingearbeitet werden muss.
Dazu kommt das Problem der sozialen Arbeitsbedingungen, die teils inakzeptabel sind. Ausserdem existiert das Risiko, dass zur Gewinnung von weiterem Kulturland die Abholzung von Wäldern zunimmt.
Aus diesem Grund gibt es keine generelle Antwort, aber man muss von Fall zu Fall eine ökologische und eine soziale Bilanz ziehen. Ich gebe also kein definitives Urteil ab.
Ich weiss, dass, übrigens auch in Brasilien, Ethanol unter guten Bedingungen hergestellt wird. Und diese Konferenz hat eben zum Ziel, Differenzierungen zu machen.
swissinfo: Könnte die Schweiz nicht ihre eigenen Bio-Treibstoffe herstellen?
M. L.: Wir produzieren bereits Bio-Ethanol aus Holz und Biogas mit unserer eigenen Technologie. Diese Erfahrung muss noch entwickelt werden.
Heute stellen kleine Gemeinden und Unternehmen Biogas auf eine bestens organisierte Art und Weise her: Die Leute sammeln ihre kompostierbaren Abfälle und die Gemeinden gewinnen daraus Gas. Würden Grossstädte wie Zürich oder Bern beschliessen, daraus Gas herzustellen, hätte das eine grosse Wirkung. Die Kompetenzen liegen jedoch bei den Gemeinden und wir können sie nicht beeinflussen.
swissinfo: Könnte die Herstellung von Bio-Treibstoffen allenfalls ein Gegengewicht zu den Schwierigkeiten sein, mit denen die Landwirtschaft in der Schweiz zu kömpfen hat?
M. L. : Wenn es um die Verwendung von organischen Abfällen geht, dann ja. Was ich jedoch für die anderen sage, gilt auch für uns in der Schweiz: Nahrungsmittel für die Mobilität herzustellen, ist aus ethischer Sicht verwerflich.
swissinfo: Wann werden auf internationaler Ebene Kriterien geschaffen, und wer wird für deren Kontrolle verantwortlich sein?
M.L.: Solche Kriterien zu erstellen, ist eines der Ziele dieser Konferenz. Sie werden aber nicht in São Paulo definiert. Die Konferenz markiert aber den Beginn eines Prozesses, der in diese Richtung geht.
swissinfo: Welches ist die Botschaft der Schweiz an dieser internationalen Konferenz von São Paulo?
M. L. : Dass das Recht zu leben und nicht Hunger zu leiden und das Recht auf Ernährung vor dem Recht auf Mobilität stehen. Man kann die Menschenrechte nicht auf dem Altar der Mobilität opfern. Diese Prinzipien richten sich gegen niemanden. Sie sind universell und gelten für alle.
Klar müssen sich die Menschen fortbewegen können. Diese Fortbewegung ist sogar der Sinn des Leben. Ich verteidige keineswegs die Unbeweglichheit, aber man kann die fundamentalen Rechte nicht opfern. Mobilität ja, aber eine nachhaltige Mobilität. Die Biotreibstoffe können dabei eine wichtige Rolle spielen, aber es ist ebenso notwendig, ihre Produktion in eine nachhaltige Richtung zu lenken.
Interview swissinfo, Claudinê Gonçalves
(Übersetzung aus dem Französischen: Gaby Ochsenbein und Christian Raaflaub)
Weniger als die Hälfte der weltweiten Ernte wird direkt für die menschliche Ernährung verwendet, 700 Millionen Tonnen zur Fütterung von Nutztieren und 100 Millionen Tonnen werden in Agrotreibstoffe verarbeitet.
In der Schweiz machten Agrotreibstoffe 0,2% des gesamten Treibstoff-Verbrauchs aus. Weltweit decken sie 1,5% des Bedarfs.
Die Europäische Union ist die grösste Produzentin und Konsumentin von Biodiesel auf dem Planeten. Diesel, auf der Basis von Raps, Soja und Palmnüssen hergestellt, decken 2% ihres Treibstoffbedars.
Bis im Jahr 2020 will die EU den Anteil auf 10% erhöhen. Das entspricht 19% der weltweiten Produktion von ölhaltigen Pflanzen.
Biotreibstoffe werden vor allem aus Mais, Raps, Soja, Rüben und Zuckerrohr gewonnen. Es braucht 200 Kilogramm Mais und 4000 Liter Wasser, um einen Liter Ethanol herzustellen.
2007 wurden weltweit 52 Mrd. Liter Bioethanol produziert, das sind drei Mal soviel wie im Jahr 2000. Die Hauptproduzenten sind die USA (27 Mrd.), Brasilien (19 Mrd.), die EU (2 Mrd.) und China (2 Mrd.).
Die Herstellung von Diesel aus Agrar-Rohstoffen kam auf 10 Mrd. Liter im Jahr 2007, das Zehnfache von 2000. Die grössten Produzenten sind die EU (6 Mrd.), die USA (2 Mrd.), Indonesien (400 Mio.) und Malaysia (300 Mio.).
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