Halten Geschenke die Bürger wirklich von Gemeindeversammlungen fern?
Die Gemeindeversammlung ist der "Klassiker" der Schweizer Lokaldemokratie schlechthin. Doch die Teilnahme der Bürgerinnen und Bürger ist seit Jahrzehnten im Sinkflug. Wie das Interesse wieder ankurbeln? Mit dem Verteilen von Geschenken? "Nein danke!", ergab jüngst eine wissenschaftlich ausgewertete Befragung von über 1600 Personen in einer Schweizer Gemeinde. Lukas Leuzinger, Chefredaktor des Politblogs "Napoleon's NightmareExterner Link" teilt das Fazit, äussert in einer Replik aber Zweifel, ob eine Umfrage hier überhaupt schlüssige Hinweise liefern kann.
Mit Gutscheinen, Gratis-Abfallsäcken und Verlosungen die Beteiligung an Gemeindeversammlungen zu steigern, ist kontraproduktiv – zu diesem Schluss kommt eine wissenschaftliche Studie. Ob das Ergebnis der Realität standhält, ist eine andere Frage.
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Während sich die Stimm- und Wahlbeteiligung in der Schweiz auf nationaler Ebene in jüngerer Vergangenheit wieder etwas erholt hat, scheint die Lokalpolitik den Bürgern mehr und mehr egal zu sein. Gemäss der jüngsten GemeindeschreiberbefragungExterner Link aus dem Jahr 2009 nehmen im Schnitt nur gerade 9,7% der Bürger an der Gemeindeversammlung teil – bei deutlich negativer Tendenz.
Wie könnten mehr Stimmberechtigte zur Teilnahme an der Gemeindeversammlung bewegt werden? Dieser Frage gingen Politikwissenschaftler des Zentrums für Demokratie Aarau (ZDA)Externer Link in einer StudieExterner Link nach. Grundlage bildete eine Befragung von 1638 Stimmbürgern in der Gemeinde Richterswil im Kanton Zürich.
Den Befragten wurden jeweils zwei fiktive Gemeindeversammlungen vorgelegt, die sich in bestimmten Aspekten unterschieden (Termin, Dauer, Themen etc.). Sie mussten sich dann entscheiden, an welcher der beiden Versammlungen sie eher teilnehmen würden. Aufgrund der Antworten ermittelten die Wissenschaftler, welche Faktoren die Teilnahmeabsicht am stärksten beeinflussten – und in welche Richtung.
Dabei kamen sie zu einem überraschenden Ergebnis: Das Verteilen von Geschenken, etwa Gutscheine oder Gebührensäcke, bringt laut der Umfrage nichts – im Gegenteil: Jene, die heute nicht an Gemeindeversammlungen teilnehmen, fühlten sich durch eine solche «Belohnung» nicht zur Teilnahme motiviert; die regelmässigen Teilnehmer würden dagegen eher abgeschreckt.
«Sozial erwünschte» Antworten
Das Ergebnis ist spannend. Aber hält es auch der Realität stand? Da es sich «nur» um eine Umfrage handelt, ist es denkbar, dass die Befragten eine materielle Motivation bestreiten. Man geht schliesslich aus staatsbürgerlichem Pflichtbewusstsein an die Gemeindeversammlung auch wenn sie sich in der Realität durch die Aussicht auf eine Belohnung beeinflussen liessen. In der Wissenschaft spricht man vom Effekt der «sozialen Erwünschtheit», wenn Leute in Umfragen bestimmte Aussagen machen, die (nach ihrem Empfinden) der gesellschaftlichen Erwartung entsprechen, und ihre tatsächliche Einstellung verschweigen.
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Kriselnde Gemeindedemokratie: Auch Geschenke helfen nicht
Ob Geschenke die Stimmberechtigten wirklich von der Ausübung ihrer politischen Rechte abschrecken, lässt sich nur herausfinden, wenn man ihnen tatsächlich Geschenke anbietet. Entsprechende Studien fehlen zumindest für die Schweiz bislang. Wissenschaftliche Untersuchungen in den USA haben gezeigt, dass die Leute eher an Wahlen teilnehmen, wenn sie dafür eine finanzielle Belohnung erhalten. Allerdings untersuchten die Studien ausschliesslich Urnenwahlen, Rückschlüsse auf Versammlungen können daraus nicht ohne weiteres gezogen werden.
Anfragen bei Gemeinden, die ihre Bürgerinnen und Bürger mit Gutscheinen, Tombolas oder Gratis-Verpflegung an die Gemeindeversammlung locken, ergaben unterschiedliche Ergebnisse. Während manche Gemeindeverwaltungen einen Anstieg der Beteiligung registrierten, stellten andere keinen Effekt fest. Keine Gemeinde gab indes an, dass Geschenke die Beteiligung gesenkt hätten. Die Rückmeldungen von einigen wenigen Gemeinden sind natürlich nicht repräsentativ, sie vermögen aber die Studienergebnisse aus Richterswil zumindest nicht zu stützen.
Daniel Kübler, Leiter des ZDA und einer der Autoren der Studie, erklärt auf Anfrage, man habe die Möglichkeit einer Verzerrung durch soziale Erwünschtheit bei der Erarbeitung des Fragebogens bedacht. Um dieses Risiko möglichst klein zu halten, wurden die Umfrageteilnehmer nicht direkt nach den Auswirkungen verschiedener Anreize gefragt. Stattdessen versuchten die Forscher die Effekte durch Paarvergleiche und eine anschliessende «Conjoint Analysis» zu ermitteln. «Ganz ausschliessen kann man natürlich dieses Problem der sozialen Erwünschtheit bei Befragungen nie», sagt Kübler.
Man kann sich durchaus die Frage stellen, wie sinnvoll es ist, Bürger mit materiellen Anreizen zur Wahrnehmung ihrer politischen Rechte bewegen zu wollen. Ausreichende Evidenz für einen negativen Einfluss auf die Beteiligung bietet die Umfrage in Richterswil indes nicht.
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