Mit Dissidenten der 5. Schweiz in Paris
Unter den weltweit rund 750 offiziellen Schweizer Vereinen in der ganzen Welt gibt es einen dissidenten: die "Gruppe Helvetischer Studien Paris". Seit 40 Jahren kämpft sie für einen Konsultativrat für die Auslandschweizer.
Langsam füllt sich der Raum mit grau- und weisshaarigen Köpfen.
Zwanzig Mitglieder des Vereins sind präsent – vom jungen, schicken Rentner bis zum Hundertjährigen.
Alle kennen sich schon seit langem. Sie schwatzen gut gelaunt miteinander, bevor die Sitzung beginnt.
Das Programm des Abends ist immer dasselbe: Schweizer Presseschau, neuste Infos über die Aktionen der «Gruppe Helvetischer Studien Paris» (GEHP) und ein Vortrag. Heute: «Persönliche Erinnerungen aus dem Zweiten Weltkrieg.»
Kritik an der ASO
Wie in vielen Auslandschweizer-Vereinen in Frankreich ist auch in der GEHP das Alter hoch. Dennoch sind die Männer und Frauen dieses Vereins ein Dorn im Auge für Bern, genauer für die Auslandschweizer-Organisation (ASO), die in der Hauptstadt die Interessen der 5. Schweiz vertritt.
In der ASO sind die Schweizer Vereine aus allen Ländern vertreten: Fussballclubs, Chöre, Handelskammern. Jeder Präsident eines Schweizer Vereins hat in der ASO ein Stimmrecht.
In dieser reibungslosen Welt gibt es einen dissidenten Verein: die GEHP ist nicht mehr Mitglied der ASO. «In der ASO organisiert sind Vereine, die auf Institutionen aus dem 19. Jahrhundert basieren und nicht mehr als fünf Prozent der Auslandschweizer repräsentieren», sagt der 92-jährige Jean-Louis Gilliéron gegenüber swissinfo. Er gilt als die moralische Autorität der Gruppe.
45 Jahre politische Präsenz
Das Hauptanliegen der GEHP sind die Rechte der Auslandschweizer. Eine Gruppe von Schweizer Intellektuellen hatte die GEHP 1963 gegründet, mit Unterstützung des damaligen Botschafters in Paris, Agostino Soldati.
Die GEHP kämpfte für das Stimm- und Wahlrecht der Auslandschweizer und später dafür, dies brieflich erledigen zu können.
Heute sind gewisse Gründungsmitglieder immer noch in der GEHP, und ihre Anliegen sind immer noch dieselben: Sie fordern eine Vereinfachung der Wahllisten-Einschreibung für die Auslandschweizer, E-Voting und vor allem einen Konsultativrat der Auslandsschweizer anstelle der ASO.
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ASO
Eine fixe Idee
Der «Auslandschweizer-Rat» sollte gemäss der GEHP von allen Auslandschweizern in der ganzen Welt gewählt werden, und nicht nur von den Präsidenten der Schweizer Vereine. Der 30-köpfige Rat sollte einmal im Jahr tagen und Empfehlungen abgeben.
«Wer wählt, sollte auch gewählt werden können», betonen die Mitglieder der GEHP. Sie kritisieren die mangelnde Auslandschweizer Vertretung im Parlament. Die 110’000 im Wahlregister eingeschriebenen Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer wählen alle in ihrem Heimatkanton, ihrem Emigrationsstatus wird dabei keine Rechnung getragen.
Keine Wahlchance
Die wenigen Kandidaten der 5. Schweiz sind in ihrer Heimatregion zu wenig bekannt, um in der Schweiz echte Wahlchancen zu haben.
«Zum vierten Mal seit 12 Jahren hat es kein Auslandschweizer ins Parlament gebracht. Das System macht dies unmöglich», sagt GEHP-Präsident Guy Samaden.
Allein in Frankreich ist die 170’000-köpfige Auslandschweizer-Gemeinde gleich gross wie die Bevölkerung eines grossen Kantons, zum Beispiel Neuenburg.
Die GEHP-Mitglieder schreiben oft an Aussenministerin Micheline Calmy-Rey. Sie nehmen so oft als möglich Stellung in der «Schweizer Revue», dem Organ der ASO. Sie laden Parlamentarier zu Diskussionen nach Frankreich ein.
Die Präsidentin der Parlamentarischen Gruppe «Auslandschweizer», Thérèse Meyer-Kaelin, anerkennt das Engagement der GEHP. «Mein Interesse an der 5. Schweiz ist teilweise durch diese Gruppe motiviert worden. Ein bisschen wie ein Stachel haben sie mich bearbeitet, und ich habe ein Postulat eingereicht für eine vermehrtre Beteiligung der Auslandschweizer am politischen Leben in der Schweiz. Das Postulat wurde abgeschrieben. Darauf habe ich die Parlamentarische Gruppe gegründet.»
Isoliert, aber umworben
In der ASO bedauert man, dass die Mitglieder der GEHP ein wenig abseits stehen. «Nehmen wir als Beispiel das Ausländerwahlrecht: Die GEHP hat an der Kampagne teilgenommen wie andere Ausländer-Organisationen, aber für sich alleine. Hätten wir gemeinsam gehandelt, hätte man das gemeinsame Ziel vielleicht erreicht», sagt ASO-Direktor Rudolf Wyder.
Die Schweizer der GEHP aber beharren auf ihrem Standpunkt. Sie würden wieder zur ASO zurückkehren, wenn diese ihren Vorschlag im Konsultativrat verteidigt.
Bis dahin halten sie ihre monatlichen Sitzungen ab, und manchmal erfüllen sie auch unerwartete Aufgaben. So helfen sie zum Beispiel Jugendlichen, die nach Informationen zur Schweiz suchen oder Schweizer Bürgern, die ihre Nationalität geerbt haben oder auf der Suche nach Angehörigen sind.
Viel gelernt
Der Grossvater des 25-jährigen Guillaume Jeangros war Jurassier. «Ich hatte Lust, wieder eine Verbindung mit der Schweiz herzustellen und habe an fünf oder sechs ihrer Treffen teilgenommen. Es hat mir gefallen.»
Und weiter: «Ich habe gelernt, wie die Parlamentswahlen funktionieren, aber auch einiges über die politische Bedeutung der alpenquerenden Tunnels. Die GEHP hat eine typische Art, ihre Sitzungen durchzuführen: bedächtig und strukturiert. Das ist gut so, denn damit gelingt es ihnen, den Dingen auf den Grund zu gehen», sagt Jeangros.
swissinfo, Miyuki Droz Aramaki, Paris
(Übertragung aus dem Französischen: Jean-Michel Berthoud und Etienne Strebel)
Die Schweizerinnen und Schweizer im Ausland haben die Ausübung ihrer politischen Rechte erst allmählich erobert.
Bereits 1977 konnten sie an Abstimmungen und Wahlen teilnehmen, mussten aber in die Schweiz reisen, um abzustimmen.
1992 wurde die Briefwahl eingeführt. Darauf stieg die Wahlbeteiligung aus dem Ausland rasant an.
Die elektronische Abstimmung für die Bürgerinnen und Bürger im Ausland wurde 1992 ins Wahlgesetz integriert. Aus technischen Gründen konnte sie bis jetzt noch nicht angewendet werden. Dies wird frühestens 2011 der Fall sein.
Nur 10 Kantone gewähren den Auslandschweizern das Abstimmen auf kantonaler Ebene. Abstimmungen auf Gemeindeebene sind nur in den Kantonen Neuenburg und Baselland möglich.
Eine angemessene Vertretung der Auslandschweizer in der Politik ist ein altes Problem.
Letzte Episode Ende Februar 2008: Mit nur einer Stimme Mehrheit lehnte die staatspolitische Kommission des Ständerates eine direkte Vertretung der Auslandschweizer in National- und Ständerat ab (Parlamentarische Initiative des Genfer Sozialdemokraten Carlo Sommaruga).
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