Nachbarn schützten auch Schweizer Hotel in Tunis
Die Revolution in Tunesien habe den Freizeit-Tourismus zum Erliegen gebracht, sagt Marco Bernasconi. Der Tessiner Geschäftsführer eines Möwenpick-Hotels in Tunis erzählt swissinfo.ch, wie er und seine Mitarbeitenden die Revolten erlebt haben.
«Das Hotel blieb während der Revolution die ganze Zeit geöffnet», sagt Marco Bernasconi. Er lebt mit seiner Familie seit zwei Jahren in einem Vorort von Tunis und führt dort ein Viersternhotel, das zur Hotelkette Mövenpick gehört.
«Man hat nie richtig gewusst, was eigentlich passiert. Die Gewaltakte auf der Strasse kamen sehr schnell und unerwartet. Wir machten uns grosse Sorgen.» Es sei einfacher gewesen, Informationen auf internationalen Sendern zu erhalten als auf den tunesischen TV-Sendern.
Die Revolution in Tunesien begann am 17. Dezember 2010 mit der Selbstverbrennung des arbeitslosen Universitätsabsolventen und Gemüsehändlers Mohammed Bouazizi vor einem öffentlichen Gebäude in Sidi Bouzid, einem Dorf 250 Kilometer südlich von Tunis. Bouazizi wehrte sich gegen Willkür des Staates und gegen Misshandlungen auf der Polizeiwache.
23 Jahre lang war es in Tunesien nicht erlaubt, seine Meinung zu äussern. Die Medien und das Internet wurden vom Staat kontrolliert.
Teile der Bevölkerung solidarisierten sich mit Bouazizi. Sie demonstrierten gegen stark angestiegene Lebensmittelpreise und Energiekosten, gegen die schlechten Zukunftsaussichten der gut ausgebildeten Jugend und gegen das autokratische, korrupte Regime, das seit 23 Jahren an der Macht war.
Die Proteste nahmen ihren Anfang im Süden von Tunesien und griffen auf andere Städte und die Region um die Hauptstadt über.
Touristen sind abgereist
«Die ausländischen Gäste verliessen das Land, wenn sie konnten. Wir halfen ihnen, Flüge zu finden. Man wusste nicht, wie sich die Situation entwickelt», sagt Bernasconi. Die meisten ausländischen Firmen in Tunesien hätten veranlasst, dass die Familien ihrer Mitarbeitenden ausreisten.
Anfang Januar löste die Polizei Demonstrationen in Tunis und in anderen Städten gewaltsam auf. Bei den Demonstrationen wurden Bilder des Präsidenten verbrannt und sein Rücktritt gefordert. In mehreren Städten herrschten bedrohliche Zustände. In Tunis fuhren Panzer auf und in der Innenstadt marschierten bewaffnete Soldaten auf. Die Armee zog sich aber zurück und wurde durch Spezialkräfte der Polizei mit gepanzernten Fahrzeugen abgelöst.
Am 14. Januar verliess Staatspräsident Ben Ali das Land. Zwei Tage später kam es beim Präsidentenpalast bei Karthago (Stadtteil von Tunis) zu heftigen Kämpfen zwischen der Armee und der Leibgarde des ehemaligen Staatspräsidenten.
Bei den Gästen, die während der Revolution im Mövenpick-Hotel wohnten, handelte es sich um in Tunis niedergelassene Ausländer, die in Tunesien in ausländischen Firmen arbeiteten», sagt Bernasconi: «Sie wohnen normalerweise in der Nähe des Präsidentenpalasts. Dort war es aber während der Revolution gefährlich. Man hörte Feuergefechte, das Militär war dort und kämpfte gegen die Milizen des ehemaligen Präsidenten Ben Ali.» Im Hotel im Vorort von Tunis hätten sie sich sicherer gefühlt.
Eingeschränkte Bewegungsfreiheit
«Eines Tages konnte man nicht mehr mit Autos mit Touristen-Nummernschildern auf die Strasse, weil die Miliz begonnen hatte, mit Autos mit solchen Nummern in der Stadt herumzufahren und aus diesen hinaus in die Menschenmenge zu schiessen. Also wurden diese Autos mit Touristenschildern vom Militär angehalten und blockiert», erzählt der Schweizer.
Auch mit Taxis konnten sich die Ausländer nicht mehr in der Stadt bewegen, sagt Bernasconi: «Das hatte damit zu tun, dass einige Deutsche festgehalten wurden, die Jagdgewehre bei sich hatten. Die deutschen Touristen waren nach Tunis gekommen, um in der Region auf die Jagd zu gehen. Sie wollten während der Revolution zurückreisen. Auf dem Weg zum Hotel wurden sie angehalten.»
Dieser Vorfall habe zu dem damals in Tunis zirkulierenden Gerücht geführt, dass deutsche Milizen gegen jene des Präsidenten kämpften. «Das war natürlich überhaupt nicht wahr. Es gab sehr viele falsche Meldungen, man wusste nie, was man glauben konnte», sagt Bernasconi.
Keine Polizei mehr
An etwas erinnert sich Bernasconi genau: «Während ein paar Tagen existierte keine Polizei mehr. Während dieser Zeit gab es viele Quartiere, die sich selbst organisierten. Die Leute verteidigten ihre Quartiere mit Stöcken und Stichwaffen.»
Es habe eine starke Solidarität zwischen Einheimischen und Ausländern gegeben, das Hotel sei von den Nachbarn in den Quartierschutz einbezogen gewesen. «Sie schützten sich und uns gegen die Kriminellen, die von der Situation profitieren wollten, und gegen die Anarchisten.»
Die meisten Angestellten des Hotels seien während den unruhigen Tagen bei sich zu Hause geblieben, weil sie Angst um ihre Familie hatten. «Wir arbeiteten mit dem Minimum an Personal, mit Leuten, die zu Hause keine Familie haben.» Die Angestellten hätten im Hotel gewohnt, weil sie nach Arbeitsschluss nicht mehr nach Hause gehen konnten. Man habe ab und zu auch Schüsse gehört.
«Wir haben irgendwann gemerkt, dass die Ausschreitungen und Plünderungen nur auf Gelände stattgefunden haben, die dem ehemaligen Machthaber, dessen Frau oder Mitgliedern des Clans gehörten. Es waren deren Läden, deren Häuser, es war deren Eigentum», blickt der Geschäftsführer des Hotels zurück.
Die Situation im Hotel habe sich erstaunlich schnell normalisiert. «Die Geschäftskunden sind wieder gekommen. «Aber wir müssen die nächsten Monate abwarten, um zu sehen, wie es sich mit den Freizeittouristen verhält.» Die Tourismusindustrie in Tunesien sei praktisch ganz zusammengebrochen, sagt der Tessiner Hotelier.
Vergangenen Samstag kam es laut Agenturmeldungen erneut zu Unruhen in Tunis. Aus der Sicht der Demonstrierenden gehen die Veränderungen im Staat zu langsam vor sich. Die Übergangsregierung verhängte eine Ausgangsssperre und nahm 200 Menschen fest.
Während der Revolution in Tunesien sind laut der Organisation Human Right Watch 78 Menschen ums Leben gekommen.
Die Schweiz hat am 19. Januar Vermögenswerte, die in Zusammenhang mit Tunesiens Expräsident Ben Ali und etwa 40 Personen aus dessen Umfeld stehen, blockiert – eine Woche, nachdem er gestürzt worden war.
Im Februar hat die Schweiz Vermögenswerte des ägyptischen Expräsidenten Hosni Mubarak und seiner Mitarbeiter blockiert.
Wie viel Mubarak besitzt, bleibt ein Geheimnis, aber Behauptungen, dass er mit seinen Söhnen insgesamt bis zu 70 Mrd. Dollar angehäuft haben soll, führten schliesslich zu den Protesten und seinem Abgang.
In beiden Fällen bleibt das Geld während dreier Jahre eingefroren. Kann die unrechtmässige Herkunft des Geldes innerhalb dieser Zeit nachgewiesen werden, muss zusammen mit der Schweiz ein Rückgabe-Modell erarbeitet werden.
Kann dies nicht bewiesen werden, müssen die Vermögenswerte wieder freigegeben werden.
In diesem Fall könnte der Bundesrat das im Februar in Kraft getretene Gesetz über die Rückerstattung unrechtmässig erworbener Vermögenswerte (RuVG) anwenden.
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