«Die Schweiz – ein gereifter Mischling»
Let's party – und (fast) niemand bekommt es mit: Am 12. September feiert die moderne Schweiz ihren 170. Geburtstag. An diesem Tag 1848 wurde in Bern die erste Bundesverfassung unterzeichnet. Das Datum aber fehlt im nationalen Gedächtnis. Völlig zu Unrecht, sagt der Historiker und Politikwissenschaftler Claude Longchamp, der an der offiziellen Feier die Festrede Externer Linkhält. Hier ein "Best of" daraus.
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«Was wir am 12. September feiern
Wir feiern diesen Anlass üblicherweise nicht, weil der Bundesstaat aus einem Bürgerkrieg hervorging. Den konservativen Katholiken war die Schweizerischen Eidgenossenschaft zu radikal geworden. Sie wollten sich von ihr trennen. Österreich, Preussen und Russland hielten zu ihnen. Die Liberalen bestanden auf der Einheit; Grossbritannien war auf ihrer Seite. Fast 100’000 Soldaten der Schweizer Armee schlugen den Aufstand nieder. 150 Mann blieben liegen.
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Der Durchbruch zur Moderne
Entstanden ist 1848 ein souveräner Staat ohne Monarch oder Monarchin. Garantiert wurde er durch eine selbsterlassene Verfassung, mit Grundsätzen der Gewaltenteilung und Demokratie.
Gesiegt hatte die Volkssouveränität. Gewährt wurde die Kantonssouveränität. Gefunden wurde mit dem Bundesstaat ein richtungsweisender Kompromiss.
Die Leistungen 170 Jahre danach sind beachtlich – gerade auch im internationalen Vergleich: Das World Economic Forum, kurz WEF, bezeichnet die Schweiz als wettbewerbsfähigste Wirtschaft der Welt. Die UNO-Organisation für geistiges Eigentum klassiert uns als das innovativste Land. Der Global Peace Index der University of Sydney lobt unsere Friedfertigkeit. Die Demokratie-ExpertInnen des Universität Göteborg machen gleiches mit unserer liberal democracy.»
Sie ging am 12. September 2018 im Haus zum Äusseren Stand in Bern über die Bühne. Genau dort wurde vor 170 Jahren die erste Bundesverfassung unterzeichnet. Es gilt dies als Geburtsstunde des modernen Bundesstaats Schweiz. Geladen waren die in Bern akkreditierten Diplomatinnen und Diplomaten sowie Spitzen der Schweizerischen Politik. Die offizielle Rede hielt der Historiker und Politikwisseschafter Claude Longchamps. Er schreibt auch regelmässig Kolumnen für swissinfo.ch. Hier finden Sie die ganze Rede, versehen mit historischen IllustrationenExterner Link.
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Schweizerische Staatskunst
1848 war ein europäisches Revolutionsjahr. Liberale und soziale Bewegungen strebten nach Freiheit und Gleichheit. Der Bundesstaat war die einzige Staatsgründung von Dauer. Rund herum herrschten bald wieder überall Könige und Kaiser.
Politologen sind überzeugt, der Erfolg 1848 liege in der Kombination von Demokratie und Föderalismus begründet. Demokratie versprach mit dem Mehrheitsprinzip vereinfachte Entscheidungen. Das stimmte die Fortschrittsgläubigen optimistisch. Ihre Widersacher blieben skeptisch. Der Föderalismus gab ihnen Raum und schütze Minderheiten.
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Schweizerische Staatskunst lehrt uns heute, die relevanten Kräfte in die Regierungen einzubinden. Behörden brauchen eine ausgewogene Zusammensetzung. Mehrheiten müssen ein Sensorium für Vielfalt entwickeln. Namentlich kulturellen Minderheiten haben ein Anrecht auf autonome Räume. Vor allem wissen wir, informelle Kontakte quer über gesellschaftliche Gräben schaffen bei uns Vertrauen.
Das alles musste erst gelernt werden!
Mehr
Warum wird die Gründung der Schweiz ausgerechnet am 1. August gefeiert?
Das Verfassungswerk hatte indes Mängel. Die Petitionen gegen den privaten Eisenbahnbau waren wirkungslos. Den Juden verweigerte man die Grundrechte, und ein dauerhaftes Bundesgericht gab es nicht.
Für die erste Verfassungsrevision brauchte es drei Anläufe. Sie brachte 1874 insbesondere das Referendum! Neu hatten die Stimmbürger ein effizientes Veto in ihren Händen, um Gesetze zu Fall zu bringen.
1891 kam die Volksinitiative dazu, mit der die Verfassung neu Artikel für Artikel revidiert werden konnte.
Das war nach der Staatsneugründung von 1848 der zweite grosse Einschnitt!
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Die FDP (Freisinnig-Demokratische Partei.Die Liberalen – die treibende Partei hin zum modernen Bundesstaat Schweiz, die Red.) ist seit 170 Jahren ununterbrochen Regierungspartei. Weltrekord! Nur ist gemäss der angelsächsischen Demokratie-Definition der periodische Regierungswechsel unabdingbar. Sie unterstellt, wir seien auf dem halben Weg zur Wettbewerbsdemokratie stehen geblieben. Wir funktionierten wie eine Hegemonie mit hohem Einbezug für Eigengruppen, aber Ausschluss von Fremdgruppen.
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Hegemonien halten sich länger
In einem Punkt hatten unsere Kritiker recht! Der Schweizer Bürger und Politiker war lange ein Mann! Die Schweizer Männer bekamen 1848 das Wahlrecht früher als viele andere. Dafür klammerten sie sich länger als andere an das Privileg. Erst im zweiten Anlauf 1971 stimmten sie dem Stimm- und Wahlrecht der Frauen in einer Volksabstimmung zu.
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Lernprozesse dank Volksrechten
Macht ist die Möglichkeit, nicht lernen zu müssen, lehrte der tschechisch-amerikanische Politikwissenschaftler Karl W. Deutsch. Die Volksrechte zwingen zum Lernen. Sie verteilen die Macht besser. Sie differenzieren politische Lösungen.
Die Zunahme von Volksabstimmungen hatte einen unerwarteten Effekt: Je mehr wir abstimmten, desto kleiner ist der Anteil Ausgänge im Sinne der Opposition.
Opponenten lieben Volksabstimmungen. So können sie protestieren. Bei Wiederholungen legt sich das. Gefragt sind mehrheitsfähige Vorschläge, oder man verschwindet von der politischen Bühne.
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Ein Hybrid mit Potenzial
Wir sind ein Hybrid, wie ein modernes Auto mit verschiedenen Motoren.
Wir haben kein präsidentielles Regierungssystem. Uns fehlt der Glaube an allmächtige Staatsmänner. Wir sind auch kein parlamentarisches System. Misstrauensvoten gegen die eigene Regierung sind uns fremd.
30 Jahre Analysen der schweizerischen Politik haben mich gelehrt: Aus dem jungen Bundesstaat von 1848 hat sich ein gereifter Mischling entwickelt.
Französische Citoyens legten die revolutionäre Basis. Deutsche Intellektuelle lehrten uns früh Staatsrecht. Amerikanische Pragmatiker wiesen und den Weg zum dauerhaften Bundesstaat. Doch die Volksrechte haben wir selber erfunden!
Wir haben eine Kollektivregierung. Sie funktioniert als Kollegium. Dazu müssen sich die sieben Mitglieder immer wieder neu finden. Das stabilisiert stets von Neuem.
Ist das nicht der Fall, kontrollieren einflussreiche Vetogruppen und gelebte Volksrechte ihre Politik.
Friedlich, seit 1848 – bis heute: Das dürfen wir heute mit Grund feiern!»
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