Neue Runde im Kampf um Schweizer Europapolitik
Aussenministerin Micheline Calmy-Rey findet es falsch, den Steuerstreit zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU) mit dem Dossier über den freien Personenverkehr zu verknüpfen.
Nachdem sie eine neue Runde bilateraler Verhandlungen mit der EU verlangt hat, kritisierte sie am Sonntag die Referendumsdrohung von Alt-Bundesrat Christoph Blocher gegen die Personenfreizügigkeit.
«Wir können nicht einfach nichts mehr tun», sagte Calmy-Rey in einem Interview mit der «NZZ am Sonntag».
Die EU entwickle sich ständig weiter, während die bilateralen Abkommen statisch seien.
Erste Priorität habe die Sicherung der bestehenden Abkommen. Sie sicherten den Schweizer Unternehmen einen privilegierten Zugang zum EU-Binnenmarkt.
«Und eine – vielleicht die einzige – Möglichkeit den Acquis bilatéral zu schützen, besteht darin, heute Verhandlungen über neue Dossiers zu eröffnen», bekräftigte die Bundesrätin ihre Aussagen, die sie am Donnerstag vor Kantonsvertretern gemacht hatte.
Calmy-Rey schlägt zudem vor, dass die Schweiz mit der EU ein Rahmenabkommen abschliesst: «Unser Ziel muss sein, unsere bilateralen Beziehungen zur EU effizienter zu gestalten. Dafür könnte ein Rahmenabkommen nützlich sein.»
Referendum hochriskant
Der bilaterale Weg könne jedoch nur unter der Voraussetzung weiter funktionieren, dass der freie Personenverkehr weitergeführt werde.
Ein Referendum dagegen sei hochriskant, sagte Calmy-Rey an die Adresse von Christoph Blocher, der ein solches angekündigt hatte.
«Ein Nein zu unseren bilateralen Verträgen würde der Schweizer Wirtschaft grössten Schaden zufügen.»
Dies bestreitet Blocher in Interviews mit der «NZZ am Sonntag» und dem «Sonntagsblick». Für die Wirtschaft sei das Abkommen über den freien Personenverkehr «nicht von grosser Bedeutung».
«Ausländische Arbeitskräfte bekommen wir zur Genüge auch ohne Personenfreizügigkeit», betonte Blocher.
Die Schweizerische Volkspartei (SVP) ergreife das Referendum gegen die Freizügigkeit, sofern die EU die Attacken auf das Schweizer Steuersystem nicht einstelle, sagte Blocher.
«Die EU drangsaliert uns in der Steuerfrage. Deshalb sagen wir: Es gibt kein Abkommen solange die EU die Schweizer Steuerhoheit nicht akzeptiert.»
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Referendum
«Perverse» Forderung
Für Finanzminister Hans-Rudolf Merz ist die Forderung nach einer Verknüpfung von Steuerstreit und Personenfreizügigkeit «pervers». Blocher provoziere damit genau das, was er angeblich verhindern wolle, nämlich Verhandlungen über die Steuerfrage, sagte Merz in einem Interview mit der «SonntagsZeitung».
Die Schweiz führe mit der EU einen Dialog über Steuerfragen, zu verhandeln gebe es nichts. «Die Verknüpfung birgt das Risiko, dass aus dem Dialog faktisch Verhandlungen werden und wir die Steuerautonomie aufgeben.»
EU: Schweiz muss Lösungen präsentieren
Der EU-Botschafter in Bern, Michael Reiterer, forderte seinerseits die Schweiz mit Nachdruck auf, einen Ausweg im Steuerstreit zu suchen.
Es sei dringend, dass die Schweiz einen Lösungsvorschlag präsentiere, sagte Reiterer in einem Interview mit der Zeitung «Sonntag».
Bei den Verhandlungen am Mittwoch werde die EU mögliche Lösungsansätze vorschlagen, die sich bei ähnlich gelagerten Konflikten mit Luxemburg oder Irland bewährt hätten.
«Die Schweiz ist frei, eine autonome Lösung zu finden, kann das Problem aber nicht einfach aussitzen.»
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Bilaterale Abkommen
Streit verschwindet nicht einfach
Dies bestätigte auch der neue Schweizer Botschafter bei der EU in Brüssel, Jacques de Watteville. Der Steuerstreit werde nicht von selber verschwinden, sagte er am Freitag. «Man muss das Thema ernst nehmen.»
Er wies aber auch darauf hin, dass die EU-Kommission sich beweglich gezeigt habe und innerhalb der EU kreative Lösungen zugelassen habe.
So hätten beispielsweise Irland, Luxemburg und die Niederlande Änderungen vornehmen müssen, um unfairen Steuerwettbewerb zu verhindern. Allerdings sei es ihnen gelungen, Lösungen zu finden, um für die Investoren attraktiv zu bleiben.
swissinfo und Agenturen
Der freie Personenverkehr oder die Personenfreizügigkeit ist Teil der ersten Bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der EU und wurde vom Schweizer Stimmvolk gutgeheissen.
Das Abkommen mit den 15 «alten» EU-Ländern ist seit dem 1. Juni 2002 in Kraft. Im September 2005 hat das Stimmvolk der Ausdehnung des Personenverkehrs auf die zehn Staaten zugestimmt, die im Mai 2004 zur EU gestossen sind (Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern).
Die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf Bulgarien und Rumänien, seit 2007 EU-Mitglieder, ist noch in Verhandlung. Der freie Personenverkehr zwischen der Schweiz und der EU ist auf Ende 2008 befristet. Die EU wird ihn stillschweigend verlängern. In der Schweiz ist die Fortführung dem fakultativen Referendum unterstellt.
Im September 2005 beanstandet die EU-Kommission in einem Brief die Steuerpraktiken in den Kantonen Zug und Schwyz.
Die Vergünstigungen für Holdings verletzen laut Brüssel den Efta-Freihandelsvertrag von 1972.
Die Schweiz stellt sich auf den Standpunkt, dass die Erleichterungen nichts mit diesem Abkommen zu tun haben. Zudem liege die Steuerhoheit bei den Kantonen.
«Diskussionen ja, Verhandlungen nein», lautet die Haltung der Schweiz gegenüber der EU.
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