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Nulltoleranz gegenüber straffälligen Ausländern

Die Ausschaffungen aus der Schweiz von straffälligen Ausländern könnten künftig zunehmen. Keystone

Nun steht es definitiv fest: Dem Stimmvolk wird sowohl die SVP-Ausschaffungsinitiative als auch ein direkter Gegenvorschlag vorgelegt, der in Übereinstimmung mit der Verfassung und dem Völkerrecht steht.

Zum Schluss der langen und nervenaufreibenden Debatten hat das Parlament in der Schlussabstimmung dem direkten Gegenvorschlag zur Initiative «Für die Ausschaffung krimineller Ausländer» der Schweizerischen Volkspartei (SVP) zugestimmt. Es empfiehlt diesen dem Stimmvolk zur Annahme.

Die knappe Mehrheit für den Gegenvorschlag kam zu Stande, weil auch Sozialdemokraten und Grüne das Risiko nicht eingehen wollten, die SVP-Initiative vor dem Volk mit leeren Händen bekämpfen zu müssen. Als entscheidender Trumpf des Gegenvorschlags erwies sich der neu eingefügte Integrationsartikel.

Umstritten und kontrovers

Die SVP kämpft allein für ihre 2007 lancierte Ausschaffungsinitiative, die sie im Vorfeld der Eidgenössischen Wahlen 2008 zum Wahlkampfthema machte.

Die Initiative sorgte von Beginn weg für Kontroversen. Allein das Abstimmungsplakat, das weisse Schafe auf einem Schweizer Kreuz zeigt, die ein schwarzes über die Grenze bugsieren, sorgte im in und Ausland für heftige Kritik.

Äusserst umstritten ist auch der Inhalt der Initiative, der die Ausschaffung von straffälligen Ausländerinnen und Ausländern fordert, ungeachtet dessen, ob sie ein Bagatelldelikt oder ein schwerwiegendes Vergehen begangen haben. Ausgewiesen werden könnten damit etwa auch Ausländer wegen Sozialhilfemissbrauchs.

Die Initiative kam schnell und mit mehr als doppelt so vielen Unterschriften als nötig zu Stande. Mit über 210’000 Unterschriften wurde sie im Februar 2009 eingereicht, fast ein Jahr vor Ablauf der Sammelfrist.

Angesichts dieser Tatsache lehnte es die Mehrheit des Parlaments ab, die umstrittene Ausschaffungsinitiative für ungültig zu erklären, wie es das links-grüne Lager forderte. Sowohl der Bundesrat als auch das Parlament befanden, dass der Abstimmungstext zwingendes internationales Völkerrecht nicht verletze und damit gültig sei, obwohl sie im Widerspruch mit den Bestimmungen des internationalen Völkerrechts und der Schweizer Verfassung steht.

Den Volkswillen respektieren

Man könne nicht einfach eine Initiative ignorieren, die von über 200’000 Personen unterschrieben wurde, argumentierten verschiedene Parlamentarier der Mitte-Rechts-Parteien. Das Volk würde nicht verstehen, wenn die Initiative für ungültig erklärt würde, sagte etwa der christlichdemokratische Ständerat Urs Schwaller.

Diese Haltung stiess bei der Linken auf Empörung, sie warf dem Parlament fehlenden Mut vor.

Der freisinnige Ständerat Dick Marty spricht von einem «Betrug» gegenüber den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern. Laut Marty sollte man dem Stimmvolk besser die Wahrheit sagen, statt das Volk glauben zu lassen, dass die Initiative umsetzbar ist, nur um ihm anderntags zu erklären, dass sie es doch nicht ist.

Der Schatten der Minarett-Abstimmung

Marty verweist auf die Schwierigkeiten bei der Umsetzung von drei weiteren Volksinitiativen: Die Verwahrungsinitiative, die Verjährungsinitiative und die Initiative gegen den Bau von Minaretten, die letzten November angenommen wurde.

Nach dem Ja zum Minarett-Verbot entschied der Ständerat, das Volksbegehren erneut auf seine Gültigkeit zu überprüfen und die Staatspolitische Kommission anzuweisen, die Möglichkeit eines direkten Gegenentwurfs zu prüfen. Der Bundesrat hatte einen indirekten Gegenentwurf vorgeschlagen, der auf die Einhaltung von Grundrechten der Bundesverfassung und des internationalen Völkerrechts setzt.

Regelkonform Ausweisen

Bei den mit Ausschaffung sanktionierten Delikten nimmt der Gegenvorschlag des Parlaments gegenüber der Initiative Präzisierungen vor.

Im Gegensatz zur Ausschaffungsinitiative werden straffällige Ausländer nicht automatisch ausgeschafft, sondern spielt das Strafmass eine Rolle. Dieser Gegenvorschlag ist mit Verfassung und Völkerrecht vereinbar.

Dilemma zwischen Pragmatismus und Idealismus

Mit diesem Schritt versucht die Parlamentsmehrheit, das Stimmvolk zur Verwerfung der SVP-Initiative zu bewegen. Eine Strategie, der sich die Mehrheit der Sozialdemokraten, wenn auch mit Zähneknirschen, angeschlossen hat. Wie zum Beispiel die Genfer Nationalrätin Maria Roth-Bernasconi, die überzeugt ist, dass die Initiative vom Volk angenommen würde, wenn sie ohne Gegenvorschlag zur Abstimmung käme. «Es geht also darum, das kleinere Übel zu wählen. Auch wenn es sich dabei um eine Wahl zwischen Pest und Cholera handelt.»

Um die Stimmen der Sozialdemokraten zu gewinnen, haben die Freisinnigen, die Christlichdemokraten, die Grünliberalen und die Bürgerlichdemokraten Konzessionen gemacht: Sie akzeptierten die Einführung eines Verfassungsartikels über die Integration. Ziel der Sozialdemokraten sind Präventionsmassnahmen, die verhindern sollen, dass Ausländer straffällig werden.

Im Namen der Grünen kritisierte der Genfer Nationalrat Antonio Hodgers den Artikel, den er als «zweifelhafte Verknüpfung zwischen Ausschaffungsmassnahmen und politischer Integration» bezeichnet. «Das führt zum Glauben, dass ein nichtintegrierter Ausländer gezwungenermassen ein Krimineller sein muss.»

Gegenvorschlag für SVP ineffizient

Der Gegenvorschlag der Parlamentsmehrheit kommt bei der SVP schlecht an. Für sie ist das gegenwärtige Gesetz und vor allem dessen Anwendung viel zu lasch. Deshalb hätte es überhaupt keine abschreckende Wirkung, sagen viele SVP-Parlamentarier und betonen immer wieder, die Ausländerkriminalität sei ein Problem in der Schweiz. Diese These untermauern die SVP-Leute mit Statistiken zur Kriminalität, wonach die Anzahl straffälliger Ausländer höher als ihr proportionaler Anteil an der Bevölkerung ist. Deshalb nütze der Gegenvorschlag gar nichts.

Falls die Initiative angenommen wird, würden sich die Ausschaffungen gegenüber heute (jährlich 300 bis 400) verfünffachen, während mit dem Gegenvorschlag die Anzahl gleich bliebe, behauptet der Thurgauer SVP-Nationalrat Walter Wobmann. Diese Zahlen werden von den Anhängern des Gegenvorschlags angefochten. Mit ihrer Variante würden sich die Ausschaffungen verdoppeln, sagen sie.

Abgesehen von theoretischen Einschätzungen, bleibt eines gewiss: Sowohl Initiative als auch der Gegenvorschlag werden eine Verschärfung des Ausländergesetzes bringen.

Weil es sich um eine Verfassungsänderung handelt, braucht es bei der Abstimmung sowohl eine Volks- wie auch eine Ständemehrheit (Kantone). Dazu wird dem Stimmvolk noch eine zusätzliche Frage gestellt: Es soll entscheiden, welche von beiden Vorlagen gültig sein soll, falls beide angenommen werden. Die Abstimmungskampagne wird heiss werden.

Sonia Fenazzi, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Italienischen: Corinne Buchser)

Bisher hat das Parlament lediglich eine Volksinitiative wegen Unvereinbarkeit mit dem Völkerrecht für ungültig erklärt: Im Jahr 1996 die Initiative «Für eine vernünftige Asylpolitik» der Schweizer Demokraten.

Laut Artikel 139 der Bundesverfassung erklärt die Bundesversammlung eine Volksinitiative für ganz oder teilweise ungültig, wenn diese die Einheit von Form oder Materie oder das zwingende Völkerrecht verletzt.

Zum zwingenden Völkerrecht gehören namentlich der Kern des humanitären Kriegsvölkerrechts, das Verbot von Angriffskriegen, Völkermord und Folter, aber auch die Abschiebung von Asylbewerbern in ein Land, in dem ihnen Verfolgung droht (so genanntes Non-Refoulement-Gebot).

Die Forderung der Initiative der Schweizer Demokarten, illegal eingereiste Asylbewerber umgehend und ohne Beschwerdemöglichkeit aus der Schweiz wegzuweisen, verstosse gegen dieses Gebot und damit gegen zwingendes, nicht kündbares Völkergewohnheitsrecht, begründete das Parlament damals die Ungültig-Erklärung.

Volksbegehren, die anderen Bestimmungen des Völkerrechts widersprechen – etwa Verfahrensgarantien der Europäischen Menschenrechtskonvention – müssen nicht zwingend für ungültig erklärt werden. Davon profitierte beispielsweise die Verwahrungsinitiative.

Auch die Anti-Minarett-Initiative widerspricht nach Auffassung des Parlaments nicht zwingendem Völkerrecht. Sie wurde daher für gültig erklärt.

Insgesamt sind seit der Einführung des Initiativrechts 1891 vier Volksinitiativen vom Parlament für ungültig erklärt worden.

Neben der Initiative «Für eine vernünftige Asylpolitik» waren dies die so genannte Chevallier-Initiative für eine Rüstungspause (1955), die «Krisen-Initiative» der Partei der Arbeit (1977), und die Initiative der Sozialdemokarten «Für weniger Militärausgaben und mehr Friedenspolitik» (1995).

Bei den drei letzteren war die Einheit von Form und Materie nicht gegebem.

swissinfo.ch

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