«Obama muss zeigen, dass er ein Präsident für alle ist»
Nach seinem Sieg bei den US-Präsidentenwahlen steht Barack Obama vor enormen Herausforderungen. Der Schweizer Professor Jürg Siegenthaler, der seit rund 40 Jahren in den USA lebt, spricht von einem Wendepunkt in der Geschichte.
Im Gespräch mit swissinfo äussert sich Siegenthaler zu den Aufgaben, die Obama erwarten und auch dazu, was der Wahlsieg des Demokraten für die Beziehungen zwischen den USA und der Schweiz bedeutet.
swissinfo: Was sind die grössten Herausforderungen, vor denen der neue Präsident steht?
Jürg Siegenthaler: Ganz sicher die Wirtschaftslage insgesamt, also nicht nur die Finanzkrise, sondern die Rezession, in der wir bereits stecken. Hier einen Ausweg zu finden und die Dinge in den Griff zu bekommen, ist eine enorm grosse Aufgabe.
Daneben muss Barack Obama sein Versprechen erfüllen, ein Präsident für alle Amerikaner zu sein.
swissinfo: In welchen politischen Bereichen kann man nun vor allem Änderungen erwarten?
J.S.: Die wahrscheinlich schwierigste aussenpolitische Frage, mit der sich die neue Regierung rasch befassen muss, ist Irak. Viele Leute, nicht nur hier, sondern weltweit, hoffen auf eine Lösung. Auch in der Energiefrage braucht es Entscheide.
Grundsätzlich dürfte sich die Politik der USA unter Obama wieder multilateraler ausrichten. Obama wird anders in die Welt schauen, und der Rest der Welt wird wieder mit anderen Augen auf die USA schauen.
swissinfo: Die Wahlen wurden schon im Vorfeld als historisch bezeichnet. Kann man nun wirklich von einem Wendepunkt in der Geschichte reden?
J.S.: Ganz sicher! Die USA haben mit diesen Wahlen einen Wendepunkt erreicht, nicht nur symbolisch. Dass nun zum ersten Mal ein Schwarzer zum Präsidenten gewählt wurde, zeigt, dass das Land einen Lernprozess durchgemacht, sich gewandelt hat.
swissinfo: In Europa und in der Schweiz war eine Mehrheit der Bevölkerung für Obama. Haben Sie dafür eine Erklärung?
J.S.: Die Frustration mit der Regierung Bush und den Republikanern war weltweit sehr gross. Dass die Umfragewerte mit 80% für Obama in der Schweiz innerhalb Europas am höchsten lagen, hat mich erstaunt. Wahrscheinlich liegt es daran, dass die Leute ihn als echte Alternative sahen.
swissinfo: Viele Europäer waren vor allem wegen des Irak-Kriegs gegen die Administration Bush eingestellt. Kann sich die Lage in Irak, aber auch in Afghanistan unter Obama verbessern?
J.S.: Das ist eine sehr schwierige Frage, denn natürlich hängt das nicht nur von den USA ab, sondern auch von Irak und Afghanistan.
Im Wahlkampf werden Themen und Lösungen sehr generalisiert dargestellt. Es wird auf jeden Fall ein schwieriger Balanceakt. Ich habe etwas Bedenken, ob Obamas Pläne, US-Truppen aus Irak abzuziehen und vermehrt nach Afghanistan zu verlegen, der richtige Ansatz ist.
swissinfo: Wird die Welt etwas friedlicher werden mit Obama?
J.S.: Obama wird sicher rasch vor erste Prüfungen gestellt. Aber ich glaube, dass wir davon ausgehen dürfen, dass eine wieder vermehrt multilateral ausgerichtete Aussenpolitik der USA dazu beitragen wird, dass weniger schwarz-weiss gemalt wird, dass Diplomatie und Dialog wieder vermehrt zum Zuge kommen.
Und das ist sicher im Interesse der Schweiz, die in diesen Bereichen in ihrer Aussenpolitik Schwerpunkte setzt. Vieles wird auch von der Person abhängen, die das Aussenministerium übernimmt, es braucht sicher eine Person mit viel Erfahrung, Kenntnis und Charisma.
swissinfo: Was kann Europa und im Besonderen die Schweiz von den USA unter Präsident Obama erwarten?
J. S.: Man darf nicht allzu grosse Hoffnungen haben. Aber falls Obama zum Beispiel im Bereich der Finanzmärkte zu guten und interessanten Lösungsansätzen auf internationaler Ebene kommt, ist das für die Schweiz sicher interessant, denn sie ist im internationalen Finanzsektor ein wichtiger Spieler.
Was die Handelspolitik angeht, scheint Obama etwas mehr in Richtung Protektionismus zu schauen. Auf internationaler Ebene ein Zeichen setzen könnte er natürlich, wenn er das Guantanamo-Lager schliessen und damit ein Kapitel beenden würde, dass viel zum jetzigen schlechten Ruf der USA beigetragen hat. Und das wäre ohne Frage ein Entscheid, den die Schweiz begrüssen würde.
Ich sehe zudem Chancen für die Schweizer Wirtschaft, wenn unter Obama im Energiebereich einiges in Bewegung kommt und neue Technologien auf den Markt kommen. Die Schweizer Industrie ist zum Glück sehr innovativ und die Beziehungen zwischen beiden Staaten könnten in dem Bereich dynamischer werden.
swissinfo: Sind in den bilateralen Beziehungen zwischen den USA und der Schweiz unter Präsident Obama konkrete Veränderungen zu erwarten?
J.S.: Die Beziehungen sind grundsätzlich gut und eng, daran wird sich nichts ändern. Ganz sicher werden Themen wie Steuerparadies und Bankgeheimnis weiter auf der Agenda bleiben. Das hängt aber mehr vom Druck ab, den die US-Steuerbehörde (IRS) ausübt, als vom Präsidenten.
swissinfo: Wie fühlen Sie sich heute persönlich nach diesem sehr langen und aussergewöhnlichen Wahlkampf?
J.S.: Erleichtert und begeistert. Besonders von meinem Standpunkt als Sozialwissenschafter her betrachtet. Ich hoffe, dass nach einer langen Zeit der Dürre in der Sozialpolitik nun bessere Jahre vor uns liegen. Ich denke dabei in erster Linie an das Pensionswesen, da wartet viel Arbeit auf Obama und den neuen Kongress.
swissinfo, Rita Emch, New York
Jürg Siegenthaler lebt seit 1967 in den USA.
Er hat an der Universität Bern Wirtschaftswissenschaften studiert, danach war er Professor für Sozialpolitische Analysen an der American University in Washington, DC.
Zu seinen Lehr- und Forschungstätigkeiten gehörten auch Wirtschaftsgeschichte, Sozialtheorie und Forschungsmethoden.
Siegenthaler ist assoziiert mit dem Institute for Socio-Financial Studies (ISFS), einer nicht-profitorientierten Organisation, die sich unter anderem dafür einsetzt, die Finanzkenntnisse von Gemeinden, Vereinen und anderen Organisationen zu stärken.
Er ist verheiratet und lebt mit seiner Frau Linda in Silver Spring, Maryland, in der Nähe von Washington, DC.
Barack Obama, 1961 in Honolulu auf Hawaii geboren, ist Jurist. Seit 2004 ist er Senator für Illinois.
Er ist auch der erste afroamerikanische US-Präsident.
Am 10. Februar 2007 verkündete er vor 18’000 Zuhörern in Springfield (Illinois) seine Präsidentschaftskandidatur.
In den Vorwahlen gewann Obama gegen seine Hauptkonkurrentin Hillary Clinton in 29 der 50 US-Bundesstaaten.
Am 3. Juni 2008 erreichte Obama die notwendige Zahl von Delegiertenstimmen, um sich eine Mehrheit für die Nominierung zum Präsidentschafts-Kandidaten seiner Partei zu sichern.
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