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«Ohne internationalen Druck gibt es keinen Frieden»

Jüdische Stimmen für ein Ende der Gewalt im Nahen Osten. jewishvoiceforpeace.org

Trotz des Krieges in Gaza gibt es sowohl auf palästinensischer wie auch auf jüdischer Seite Kräfte, die sich für Frieden einsetzen. So auch der Schweizer Guy Bollag von der "Jüdischen Stimme für einen gerechten Frieden zwischen Israel und Palästina".

Israel und Palästina sollten als gleichberechtigte Nachbarn in Frieden leben, in einem Nahen Osten, in dem sich die verschiedenen Staaten anerkennen. Und vielleicht, so Guy Bollag im Gespräch mit swissinfo, «werden Israel und Palästina später einmal eine Staatenföderation bilden oder einen Staat mit zwei ‹Kantonen›, wobei alle Bewohner gleichberechtigt sein müssen».

swissinfo: Die Realität ist im Moment von einer friedlichen Lösung weit entfernt. Beide Seiten bringen wenig Verständnis auf für die Geschichte der Gegenseite. Wie soll sich das ändern?

Guy Bollag: Tatsächlich sind die beiden betroffenen Bevölkerungen mehrheitlich noch nicht bereit, von sich aus diesen Weg zu beschreiten. Es ist die Aufgabe der grossen Weltgemeinschaft, den nötigen Druck auszuüben und diese Völker zur Vernunft zu bringen.

Die Trennung durch diese Apartheid-Mauer muss weg, es braucht bald wieder individuelle Kontakte, so dass sich die Menschen auch im Alltag erleben. Solche vertrauenfördernde Schritte werden diesen Weg ebnen helfen.

swissinfo: Was braucht es konkret von Seiten des israelischen Staates?

G.B.: Israel muss aufhören, sich immer nur als Opfer zu sehen, und auch seine Täterrolle anerkennen. Der Staat und seine jüdische Bevölkerungsmehrheit müssen anerkennen, dass 1948 und 1967 viele Palästinenser zu Flüchtlingen wurden, und beginnen, die Verantwortung für begangenes Unrecht zu übernehmen.

swissinfo: Und die palästinensische Seite?

G.B.: Auch sie muss eine gewisse Täterrolle anerkennen. Dieser Prozess muss parallel erfolgen.

swissinfo: Im Moment sprechen die Waffen, der Friedensprozess ist ausgehebelt. Haben Sie noch Hoffnung auf eine Lösung?

G.B.: Man darf die Hoffnung nie aufgeben. So wurde in der Rede der «Jüdischen Stimme» an der Demonstration von vergangenem Wochenende in Bern auch für die Annahme der Friedensinitiative aller arabischer Staaten geworben. Diese sieht die Anerkennung des Staates Israel vor – als Gegenleistung für einen freien Staat Palästina in allen 1967 von Israel besetzten Gebieten. Die Rede wurde von den vielen palästinensischen Anwesenden gut aufgenommen.

Es gibt auf beiden Seiten Friedenskräfte, die zwar noch schwach sind, aber doch ihre Stimme erheben. Es gibt auch eine medizinische Zusammenarbeit und viele soziale Projekte in Palästina, die noch immer funktionieren. Diese Kerne der Hoffnung geben uns den Mut weiterzumachen.

swissinfo: Juden in der Diaspora haben eine besondere Verbundenheit mit Israel, auch jene in der Schweiz. Wie einig sind sich jüdische Menschen im Bezug auf den Nahost-Konflikt?

G.B.: Es gibt verschiedene Stimmen. Nicht zu leugnen ist eine Einigkeit im Zusammenhang mit dortigen Verwandten und anderen, denen man sich verbunden fühlt.

Aber es existieren auch Unterschiede: Israel ist eine sehr militarisierte Gesellschaft mit einer grossen Schere zwischen arm und reich, die sich weiter öffnet, eine Gesellschaft, in der die Minderheiten strukturell benachteiligt werden, seien es israelische Araber, Menschen sephardischer Herkunft oder Juden aus Äthiopien.

Diese Tatsachen treffen in der Diaspora auf ein gewisses Unverständnis, was die Beziehung zu jüdischen Israelis belastet. Der Druck von dieser Seite, man müsse sich in jedem Fall solidarisch zeigen, ist stark.

swissinfo: Kritik an Israels Politik wird jeweils schnell als Antisemitismus abgetan. Was, wenn Juden den Krieg in Gaza kritisieren? Werden sie zu Nestbeschmutzern?

G.B.: Die Vorwürfe kommen natürlich vor allem von Regierungsseite gegen oppositionelle Kräfte im Inland wie auch in der Diaspora. Im Inland werden Demonstrationen behindert. Jüdische Leute und israelische Araber werden regelmässig eingesperrt.

Andererseits muss die Gemeinschaft zur Kenntnis nehmen, dass es verschiedene Meinungen gibt.

swissinfo: Wie geht die jüdische Gemeinde in der Schweiz mit interner Kritik um? Besteht auch da ein gewisser Solidaritäts-Druck?

G.B.: Die jüdische Gemeinschaft in der Schweiz ist eine Minderheitengemeinschaft, insofern gibt es immer eine starke soziale Kontrolle, und abweichende Meinungen werden schlecht toleriert.

Aber es herrscht doch eine gewisse Offenheit, immer wieder gibt es Momente der Diskussion. So hat ein Kollege von mir, der sich sehr für die Palästinenser in Israel und Palästina einsetzt und auch in die Synagoge geht, teilweise positive Erfahrungen gemacht.

Früher gab es aber auch Demonstrationen für Israel, bei denen Flugblätter der kritischen jüdischen Kräfte zerrissen und Verteiler bespuckt wurden. Aus diesem Grunde werde ich an einer Pro-Israel-Demonstration sicher keine Flugblätter der «jüdischen Stimme» verteilen.

swissinfo: Wie pflegt die «Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden» den Dialog mit den Palästinensern in der Schweiz?

G.B.: Es ist ein Dialog mit Auf und Ab, eher ein individueller, sporadischer Kontakt. Wie die jüdische kennt auch die palästinensische Gemeinschaft den Mechanismus, dass unterschiedliche Stimmen nicht immer erwünscht sind. Es gibt auch Palästinenser, die es nicht einfach haben, wenn sie regelmässigen Kontakt mit uns haben.

swissinfo: Wie beurteilen Sie die Berichterstattung der Schweizer Medien zum Krieg in Gaza?

G.B.: Durch die Lektüre verschiedener Medien habe ich feststellen können, dass die Berichterstattung sehr ausgewogen ist, dass verschiedene Stimmen zu Wort kommen, pro-israelische und pro-palästinensische. Leider wird dies in der jüdischen Gemeinschaft nicht entsprechend gewürdigt. Die Vorwürfe der Einseitigkeit sind haltlos.

swissinfo: Laut dem SIG gibt es seit Beginn des Krieges vermehrt Drohungen gegen Juden sowie antijüdische Sprayereien. Nimmt der Antisemitismus zu?

G.B.: Es gibt diese Sprayereien und diese unsägliche Gleichsetzung von Israel mit Nazi-Deutschland. Geschehen ist dies aber bisher relativ selten. Man darf nicht vergessen, dass es auch das Gegenteil gibt. In Frankreich wurden zwei tunesische Jugendliche von sieben rechtsradikalen zionistischen Jugendlichen zusammengeschlagen, das stand jüngst im Tages-Anzeiger.

Es gibt leider Anpöbelungen, Drohungen und Gewalt von beiden Seiten, was unbedingt verhindert werden muss.

swissinfo-Interview: Gaby Ochsenbein

Der Verein «Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden zwischen Israel und Palästina» wurde 2002 in Zürich gegründet. Er ist quasi die Fortsetzung der 1982 gegründeten Vereinigung «Kritische Jüdinnen und Juden Schweiz» und gehört zum Netzwerk «European Jews for a Just Peace» (EJJP).

Die rund 25 Mitglieder arbeiten mit allen Friedensgruppen (in der Schweiz, Israel und Palästina) zusammen, die das Existenzrecht Israels und das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes anerkennen.

Sie unterstützen ein freies Palästina in Gaza und Westbank. Bezüglich des Rechts auf Rückkehr der Flüchtlinge müssten einvernehmliche Lösungen gefunden werden. Sollte die Rückkehr individuell nicht umsetzbar sein, müssten die Flüchtlinge entschädigt werden.

«Ist das militärische Eingreifen Israels im Gazastreifen gerechtfertigt?» fragte swissinfo die Leserschaft zwischen dem 5. und 18.1.2009.

An der nicht repräsentativen Umfrage beteiligten sich 2138 Personen.

Das Resultat: 1506 (70%) sagten Ja, 600 (28%) Nein. 32 Personen (2%) waren unentschlossen.

Rund 18’000 Schweizerinnen und Schweizer sind als Juden registriert. Diese Zahl ist seit Jahren langsam rückläufig .

Die Zahl der nicht-registrierten Juden ist nicht bekannt.

Schätzungsweise 60% der jüdischen Personen in der Schweiz sind im Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund organisiert, dem grössten Dachverband der jüdischen Gemeinden.

In Israel leben 13’000 Schweizerinnen und Schweizer.

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