«Ohne Stallgeruch, aber mit gutem Machtinstinkt»
Der Wahlkampf sei langweilig gewesen, jetzt aber werde es spannend in der deutschen Politlandschaft, sagt Roger de Weck. Und der Druck auf die Schweiz werde nach dem Machtwechsel im Nachbarland nicht abnehmen, im Gegenteil, so der Publizist gegenüber swissinfo.ch.
swissinfo.ch: Schwarz-Gelb schafft den Machtwechsel. Angela Merkel bleibt Kanzlerin. Sie gilt als uncharismatisch und unscheinbar, aber auch als knallharte Machtpolitikerin. Was für ein Mensch ist sie?
Roger de Weck: Sie bringt keinerlei Voraussetzungen mit, CDU-Vorsitzende zu sein: Sie ist eine Ostdeutsche in einer stark westdeutsch geprägten Partei, eine Protestantin in einer stark katholischen Partei, eine Frau in einer Männerpartei, eine Geschiedene in einer traditionsbewussten Partei.
Sie hat weder den Stallgeruch noch die Erfahrung, und trotzdem hat sie sich durchgesetzt, was für ihren Machtinstinkt spricht. Das zeigte sich in der so genannten Elefantenrunde, dem Treffen der Parteivorsitzenden, am Abend der Wahl, wo sie wenig sagte, die Männer reden liess, aber letztlich das Spiel beherrschte, nüchtern, sachlich wie die Wissenschaftlerin, die sie ja ist.
Sie analysiert die Probleme und hat die grosse Fähigkeit, Konsens herzustellen. Sie macht ohne Allüren, was sie sich vorgenommen hat, das schätzen die Deutschen an ihr.
swissinfo.ch: Die SP hat über zehn Prozentpunkte verloren. Wieso konnten die Sozialdemokraten nicht mehr Profit aus der Wirtschaftskrise schlagen?
R.d.W.: Die Sozialdemokratie ist in ganz Europa in der Krise. Das gilt für die traditionsverbundenen Sozialdemokraten in Schweden, für die Sozialisten in Frankreich, für die modernistische Linke in Grossbritannien oder Italien oder die osteuropäische in Tschechien oder Ungarn.
Den deutschen Sozialdemokraten ist es nicht gelungen, die ökologisch Denkenden zu integrieren und die Arbeiterschaft zu behalten. Zudem werden die Spielräume enger: Die Finanzierung des Sozialstaates plagt die Linke in Deutschland und ganz Europa.
Dazu kommt, dass das Durchschnittsalter der Parteimitglieder bei 57 liegt. Die SPD ist überaltert und hat den Generationenwechsel nicht geschafft.
swissinfo.ch: Was bedeutet der Machtwechsel für die Schweiz?
R.d.W.: Die Schweiz sollte sich nicht zu viel davon versprechen. Viele Konservative hoffen, dass dadurch die Konflikte mit der Bundesrepublik entschärft würden. Das glaube ich nicht, im Gegenteil.
Die Staatsverschuldung wird, wenn die bürgerlichen Pläne zur Steuersenkung verwirklicht werden, weiter emporschnellen. Dies wird den Druck, keine Steuerhinterziehung, keine Steuerflucht mehr zuzulassen, tendenziell sogar erhöhen.
swissinfo.ch: Wird die bürgerliche Koalition Deutschlands auf der internationalen Politbühne anders auftreten? Stichworte Afghanistan, Klimapolitik…
R.d.W.: Afghanistan wird für diese Koalition ein Dollpunkt. Der künftige Aussenminister, FDP-Chef Guido Westerwelle, wird diesen in Deutschland höchst unpopulären und überhaupt sehr wenig erfolgreichen Krieg verteidigen müssen.
In der Klimapolitik kann es sich die Koalition kaum leisten, hinter dem zurückzustehen, was ihre Vorgängerin gemacht hat. Die Erwartungen der gesamten deutschen Öffentlichkeit querbeet durch alle Parteien an eine Vorreiterrolle der Bundesrepublik in Sachen Klimapolitik sind sehr gross.
Möglicherweise hat sich die mächtige deutsche Automobilindustrie unter der Grossen Koalition noch etwas besser vertreten gefühlt, aber das wird nicht wesentlich ändern.
Hinzu kommt, dass eventuell der erzwungene Konsens zwischen Sozialdemokraten und Christdemokraten, keine neuen Atomkraftwerke zu bauen, nun weicht und man sich behutsam in Richtung des Baus neuer AKW bewegt.
swissinfo.ch: Es war von einem lauen, spannungs- und inhaltsarmen «Kuschel-Wahlkampf» die Rede. Ist das jetzt die neue Ära Merkel? Fertig mit Politklamauk und Show, hin zur Sachlichkeit?
R.d.W.: Der Regierungsstil von Angela Merkel wird sachlich bleiben. Der Wahlkampf war in der Tat langweilig, aber jetzt wird es hochspannend, denn die gesamte politische Landschaft wird umgepflügt.
Es wird zu einem enormen Machtkampf innerhalb der SPD kommen, zwischen den Altvorderen, verkörpert durch Leute wie Frank-Walter Steinmeier und den Noch-Vorsitzenden Franz Müntefering, und den Jungen, tendenziell mehr linken Politikern, die keine Berührungsängste haben zur Partei der Linken von Oskar Lafontaine und Gregor Gysi.
swissinfo.ch: Wie in anderen Ländern haben auch in Deutschland die grossen Parteien verloren und die kleineren wie Grüne, FDP, Linke zugelegt. Was bedeutet diese Umkrempelung der Politlandschaft?
R.d.W.: Das Spiel ist offener. Bei den Grünen werden wir es in nächster Zeit ebenfalls mit einem Generationenwechsel zu tun haben. Ob die Grünen noch lange als klassische Linkspartei gelten können, ist eine sehr offene Frage.
Es gibt viele Möglichkeiten für andere Koalitionen in vier Jahren: Z.B. schwarz-grün, oder Ampel (rot-gelb-grün). Auch Rot-Rot-Grün bleibt eine Alternative, denn das Tabu, mit dem die Linke belegt wurde, gründet auf dem persönlich zerrütteten Verhältnis zwischen alten Sozialdemokraten und Oskar Lafontaine. Sie sehen ihn als Verräter, die Jungen flirten bereits mit ihm.
Es entsteht also eine Situation, in der vielleicht mit Ausnahme einer Koalition von CDU und der Linken fast jeder mit jedem kann.
Gaby Ochsenbein, swissinfo.ch
Roger de Weck (55) ist Publizist in Zürich und Berlin. Er schreibt für deutsche, französische und Schweizer Zeitungen. Auch ist er Moderator der Fernsehsendung «Sternstunden».
Der zweisprachige Freiburger ist Präsident des Stiftungsrats des Genfer Hochschulinstituts für internationale Studien (HEI) und Gastprofessor am Europa-Kolleg in Brügge und Warschau.
Zuvor war er Chefredaktor des Tages-Anzeigers und der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit.
De Weck ist Mitglied des Pen Clubs, Stiftungsrat des Karlspreises in Aachen, Ehrendoktor der Universität Luzern und Träger des Medienpreises Davos. Er hat in St. Gallen Volkswirtschaft studiert.
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