«Wir sind in einer polarisierten Schweiz»
Ein Jahr nach den Wahlen 2023 steht fest, was die Auswirkungen im Bundeshaus sind. Weitgehend auf der Strecke blieb die Schweizer Diaspora. Aber nicht nur sie, wie unser Gespräch bei "Let's Talk" zeigt.
Vor einem Jahr wählte die Schweiz ein Parlament, das stärker nach rechts tendiert und deutlich weniger grün tickt.
Vertritt dieses Parlament die Interessen der Schweizerinnen und Schweizer, die im Ausland leben?
Bei «Let’s Talk» diskutieren darüber Priscilla Imboden, Bundeshauskorrespondentin des Online-Magazins «Republik» sowie Lukas Golder, Co-Direktor des Meinungsforschungsinstituts gfs.bern.
Introvertiertes Parlament
«Die Schweizer Politik ist stark nach innen orientiert», sagt Priscilla Imboden. «Der Blick von aussen ist dem Parlament abhandengekommen.»
Das zeige sich in der aktuellen Legislatur daran, dass es mit den internationalen Abkommen nicht mehr stringent umgehe und Gelder für die Internationale Zusammenarbeit infrage stelle.
«Deshalb wäre es sehr wertvoll, wenn die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer eine Stimme hätten, um auch diese Sichtweise einzubringen», sagt Imboden.
Lukas Golder ergänzt: «Auch bei 200 Personen im Nationalrat macht eine Person einen Unterschied.» Der Charakter einer Person, der Hintergrund und eben auch die Herkunft – zum Beispiel als Auslandschweizer – spiele eine Rolle. «Diese Diversität fehlt in der aktuellen Parlamentszusammensetzung», sagt Golder.
Marginalisierte Schweizer:innen im Ausland
Die Marginalisierung der Auslandschweizer:innen nach den Wahlen hat für ihn gar System. Das liege nicht nur am Parlament, sondern auch an den Medien. Auch diese seien «kaum fähig», die Perspektive zu öffnen, sagt Golder.
Laut Imboden hat das Parlament in Bern die Stimmen aus dem Ausland nicht auf dem Radar. Dabei sei es eigentlich nicht logisch, dass die Schweiz so introvertiert funktioniere.
«Denn gleichzeitig ist sie eines der weltoffensten Länder – mit Handel, mit Forschung mit vielen internationalen Firmen.»
Die einzige Erklärung, die sie dafür finde, sei diese: «Die Personen in der Schweiz, die für diese Offenheit sorgen, sind hier nicht stimmberechtigt.»
Als markantestes Ereignis des ersten Jahres dieser Legislatur sieht Politologe Lukas Golder das Ja der Stimmbevölkerung zur 13. AHV-Rente. Zum Parlamentsbetrieb hingegen sagt er: «Man spürt im Moment, dass die Finanzpolitik alles fein steuern kann.»
Das fällt auch Priscilla Imboden auf. «Es geht um das Geld. In Zeiten des knappen Bundesbudgets entscheidet das Geld darüber, welche Interessen finanziert werden und welche nicht», sagt die Bundeshaus-Journalistin. Imboden kritisiert, das Parlament leiste in den wesentlichen Finanzdebatten «unseriöse Arbeit».
Markant für die das erste Jahr der Legislatur ist auch, dass Parlament und Regierung bei zwei wichtigen Abstimmungen verloren haben: bei der 13. AHV-Rente und der BVG-Reform. Insofern stellt sich die Frage, ob das Parlament noch im Einklang mit dem Stimmvolk ist.
Wir haben Mitglieder des Parlaments dazu befragt, ob das Stimmvolk seinen Vertreter:innen in Bern noch vertraut.
Die Antworten der Politiker:innen diskutieren die beiden Polit-Expert:innen in folgendem Ausschnitt.
Dass sich der Ton unter der Bundeshauskuppel verschärft hat, stellen beide Gäste fest. «Der Stil der SVP hat eine Verschärfung reingebracht», sagt Golder. Es herrsche permanenter Wahlkampf. «Wir sind in einer polarisierten Schweiz.»
«Frage des Lohnschutzes ist zentral»
Besonders polarisiert ist das Thema Schweiz-EU. Es wird im Rest dieser Legislatur noch eine dominante Rolle spielen, sind die Gäste im Studio überzeugt.
Auslandschweizer Roland Erne ist Experte darin. Er lehrt am University College in Dublin über Europäische Integration und Arbeitsrecht. Für ihn steht fest, dass die flankierenden Massnahmen der Schlüssel für eine Einigung mit der EU sein werden.
«Die Frage des Lohnschutzes ist zentral. Und wenn wir eine Mehrheit gewinnen möchten, braucht es einen sozialen Schutz», sagt er.
Dabei bringe aber eine Beschränkung der Zuwanderung mit Kontingenten nichts, sagt Erne, der auch Mitglied des Auslandschweizer-Rats ist.
«Kontingente haben keine Bremswirkung», sagt Erne. Er sieht in der EU ein Erstarken der sozialen Kräfte, welche der Schweiz helfen würden in der EU. Für diese sei aber nicht akzeptabel, dass der Bundesrat von der EU nun Kontingente verlange.
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