Politische Langeweile gibt es 2009 nicht
Personenfreizügigkeit, Finanz- und Wirtschaftskrise mit erhöhter Arbeitslosigkeit, ein neuer, diesmal "richtiger" SVP-Bundesrat: Über diese und andere das Jahr 2009 prägende Fragen hat sich swissinfo mit dem Politologen Georg Lutz unterhalten.
Der Urnengang über die Weiterführung der Personenfreizügigkeit und deren Ausdehnung auf Bulgarien und Rumänien vom 8. Februar 2009 ist für den Politologen Georg Lutz vom Forschungszentrum ForS an der Universität Lausanne die wichtigste Abstimmung der ganzen Legislaturperiode.
Bei einem Nein stände sehr viel auf dem Spiel, sagt er. «Das ganze Paket der Bilateralen Verträge müsste neu verhandelt werden.»
Folgen für die SVP
Für die Schweizerische Volkspartei (SVP), die sich jetzt für ein Nein stark macht, wäre eine Ablehnung ein Erfolg – «aber teuer zu bezahlen, denn es gibt ja innerhalb der SVP einen Wirtschaftsflügel, der für die Personenfreizügigkeit ist». Dieser sei für die SVP wichtig, weil sie sich immer auch als Wirtschaftspartei zu positionieren versucht habe. «Bei einem Nein wäre das Verhältnis der SVP zu den Wirtschaftsverbänden stark erschüttert», sagt Lutz.
SVP-Gegnern, die bei einem Ja einen Niedergang der Partei prognostizieren, versetzt der Politologe einen Dämpfer: «Man hat der SVP in den letzen 15 Jahren immer wieder mal den Niedergang prophezeit. Aber es gelang ihr jedes Mal, bei den Wahlen zuzulegen.» Die SVP stosse aber an Grenzen: «Das national-konservative Wählerpotenzial ist nicht unendlich.»
Zerreissprobe mit der eigenen Partei?
Mit Samuel Schmid-Nachfolger Ueli Maurer wählte die Bundesversammlung diesmal einen «richtigen» SVP-Bundesrat. Doch gab sich der als Hardliner geltende Maurer bereits versöhnlich und kündigte an, Bundesratsbeschlüsse kollegial gegen aussen zu vertreten, auch solche, die seine Partei bekämpft.
Von einer Zerreissprobe Maurers mit der eigenen Partei mag Lutz aber noch nicht sprechen. Klar hätten einige SVP-Leute mit Unbehagen festgestellt, dass sich Maurer in Interviews bereits sehr als Staatsmann und Regierungsmitglied und weniger als Aushängeschild für die SVP-Oppositionspolitik gegeben habe. «Wie die Partei damit umgeht, bleibt abzuwarten.»
Bundesrat-Kaffeesatzlesen
Spekuliert wird, dass es 2009 zu weiteren vorzeitigen Rücktritten im Bundesrat kommen könnte. «Um das vorauszusehen, sollte man vielleicht zu einem Astrologen gehen», so Lutz. In der Vergangenheit habe sich die Regierung aber von Rücktritts-Spekulationen wenig beeindrucken lassen.
Pascal Couchepin jedenfalls bleibe noch 15 Jahre, bis 2023, im Amt, lacht Lutz. Denn auf seiner Weihnachtskarte, die Couchepin jedes Jahr von Kunstschaffenden aus einem anderen Kanton gestalten lässt, stehe: «Die Weihnachtskarte 2009 wird von einem jungen Künstler aus Appenzell Ausserrhoden gestaltet werden. Danach verbleiben noch 14 Kantone.»
Finanzkrise – Vertrauenskrise
Ob der Staat der UBS eine weitere Finanzspritze verabreichen muss (oder auch eine der Credit Suisse), könne niemand vorhersagen, meint der Politologe. Jedenfalls könne es sich die Landesregierung nicht leisten, die beiden grössten Banken, die eine enorme Bedeutung für die Schweizer Volkswirtschaft hätten, quasi in den Konkurs gehen zu lassen. «Je nach Situation kann es weitere mögliche Rettungspakete geben.»
Für das Vertrauen der Bevölkerung in die Banken wäre das nicht optimal, dieses sei ja schon jetzt nachhaltig erschüttert. «Die Banken, die sich immer als Musterknaben der Wirtschaft präsentiert haben, zeigten 2008 eklatante Schwächen. Nicht nur in den Reaktionen auf die wirtschaftliche Situation, sondern auch in ihrem Umgang mit Risiken.»
Mehr Fremdenfeindlichkeit?
Die Konjunktur-Auguren malen für 2009 ein schwarzes Bild der Schweizer Wirtschaft. Es wird mit einer Arbeitslosigkeit von fast 3% gerechnet. Politologe Lutz meint allerdings, Grösse und Dauer der Rezession seien noch abzuwarten.
«Einige Leute reagieren auf wirtschaftliche Krisen mit Ausländerfeindlichkeit.» Ob die SVP davon profitieren könne, sei schwer zu sagen. «In Krisenzeiten gibt es ja auch traditionell linke Forderungen, wie der Ruf nach einem starken Sozialstaat und ausgebauter Regulierung. Bisher konnten die Sozialdemokraten aber in Wähleranteilen nicht profitieren.»
Für Lutz steht nicht fest, ob die wirtschaftliche Lage in der Schweiz Einfluss auf die anstehenden Abstimmungen haben wird. «Vor allem, wenn es um eher symbolische Geschäfte wie die Minarett-Initiative geht.» Hier sei entscheidend, ob die SVP diese als strategische Kampagne betrachte.
Nulljahr für Klimaschutz und Umwelt
In Wirtschafts- und Finanzkrisen haben es Klima- und Umweltfragen schwer. Allerdings habe es in diesem Bereich schon immer eine eklatante Differenz zwischen den hochgesteckten Zielen und der realen Umsetzung gegeben, sagt Lutz.
«In Krisenzeiten haben es Massnahmen, die etwas kosten oder das Wirtschaftswachstum etwas bremsen könnten, noch schwerer, als sie es sowieso schon haben.» Und das könnte praktisch sein: «Man kann von diesen Zielen abkommen, ohne dass es politisch zu viel kostet.»
swissinfo, Jean-Michel Berthoud
Georg Lutz ist promovierter Politikwissenschafter. Er forscht und lehrt zu politischen Institutionen und politischem Verhalten in vergleichender Perspektive sowie zu Schweizer Politik.
Lutz ist zur Zeit Projektleiter der Schweizer Wahlstudie Selects, welche dem Forschungszentrum Sozialwissenschaften (ForS) in Lausanne angegliedert ist.
Der Politologe arbeitet regelmässig als Konsulent für Organisationen wie die Weltbank und die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) oder für das Eidg. Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA).
Am 8. Februar 2009 kommt die Personenfreizügigkeit Schweiz–EU zur Abstimmung: Weiterführung des Abkommens und Ausdehnung auf Bulgarien und Rumänien.
Die Landesregierung ist der Ansicht, dass die Schweiz in den letzten sechs Jahren gute Erfahrungen mit dem Personfreizügigkeits-Abkommen Schweiz–EU und den übrigen bilateralen Abkommen I gemacht hat.
Bundesrat und Parlament haben deshalb beschlossen, diese Abkommen zu sichern. Sie wollen die Personenfreizügigkeit unbefristet weiterführen und gleichzeitig auf die neuen EU-Mitglieder Bulgarien und Rumänien ausdehnen.
Gegen diesen Beschluss wurde das Referendum ergriffen.
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