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Wähler werden Werber

Die alte Welt setzt auf Meinungsbildung und Presse, die neue auf Mobilisierung von Schwärmen. Ist dies das Ende des politischen Diskurses? Nein. Aber Kampagnen für die Wahlen 2019 werden wohl anders geführt.


Porträt Claude Longchamp
Kolumne heute: Aus Wählerinnen und Wählern werden Polit-Campaignerinnen und -Campaigner. swissinfo.ch

Eine Medienmitteilung der Universität Zürich schreckte jüngst Öffentlichkeit auf: «Der Medienschwund bedroht die Demokratie», lautete ihr Titel. Zitiert wurde eine politikwissenschaftliche Studie, die zeige, wie die Beteiligung an lokalen Wahlen und Abstimmung direkt von der schwindenden Dichte der lokalen Medien abhänge.

Der Autor

Claude Longchamp zählt zu den erfahrensten und angesehensten Politikwissenschaftlern und -analysten der Schweiz.

Er war Gründer des Forschungsinstitutes gfs.bernExterner Link, dessen Direktor er bis zu seiner Pensionierung war. Er ist nach wie vor Präsident des Verwaltungsrats. Longchamp analysierte und kommentierte während 30 Jahren Abstimmungen und Wahlen am Schweizer Fernsehen SRF. 

Für swissinfo und dessen Demokratieplattform #DearDemocracy schreibt Longchamp jeden Monat eine Kolumne im Hinblick auf die Schweizer Wahlen 2019.

Der Politikwissenschaftler und Historiker ist Autor zweier Blogs: ZoonpoliticonExterner Link über Politikwissenschaft sowie Stadtwanderer Externer Linküber Geschichte. 

Das schärfte den Blick für etwas Wesentliches. Denn Informationen via Presse als Grundlage für die Meinungsbildung der Bürger und Bürgerinnen prägen unser gängiges Verständnis von Kampagnen. 

Eher hilflos wirkte dagegen der Appell der Studienautoren an Stiftungen, Parteien und Behörden, zum Schutz der Demokratie medial selber aktiv zu werden.

Da finde ich das gleichzeitig erschienen Buch «Agenda für eine digitale Demokratie» aufschlussreicher. Der Campaigner Daniel Graf und der Politologe Maximilian Stern loten darin das Potenzial der Digitalisierung in der politischen Kommunikation aus. 

Sie scheuen auch die Frage nicht, wer die digitale Schweiz regieren werde. Eine digitale Jungpartei, die es zwar noch nicht gebe, deren Konturen sich aber erahnen liessen, ist ihre Antwort.

Der Wähler wird Teil der Kampagne

Seit der famosen Nein-Kampagne zur SVP-Durchsetzungsinitiative 2016 diskutiert man dieses Phänomen beispielsweise anhand der parteiübergreifenden Bewegung «Operation Libero».

Anders als die klassischen Kampagnen, in denen sich ein zentraler Sprecher top-down an Empfänger richtet, funktionieren die neue Kampagnen. Ihr Ziel: Die Empfänger selber zu Sprachrohren werden zu lassen. Sie sollen sich persönlich an ihr Umfeld wenden und damit eine grössere Wirkung erzielen.

Doch das ist nur die eine, gute Mitteilung vom Buch von Graf und Stern.

Weniger Sachlichkeit, mehr Emotion

Die andere, nachdenklichere Botschaft ist der Sprung in der politischen Kommunikation. Gefragt ist nämlich nicht mehr der möglichst rationale Diskurs zwischen Befürwortern und Gegnern, um Schwankende von der Wahl einer Partei oder Unschlüssige mit Argumenten vom Pro oder Kontra zu überzeugen. 

Vielmehr strebt man mit den neuartigen Kampagnen danach, ein Wählerpotenzial, das sachlich vorentschieden ist, mit individualisierten Medien anzustecken, sodass die Wähler emotional bestärkt ihre Stimme abgeben.

Mobilisierung ist das neue Stichwort, nicht Meinungsaufbau oder Meinungswandel.

Ansteckende Geschichten setzen sich durch

Graf und Stern vergleichen die kommende politische Kommunikation mit einem Billard-Spiel, bei dem der kräftige Anstoss die exponierteste Kugel möglichst frontal trifft, damit deren Bewegungsenergie alle nachgelagerten Kugeln in Bewegung setzt. Am besten in verschiedenste Richtungen gleichzeitig.

Marketingexperten nennen das «First-Follower-Prinzip». Zu Beginn steht eine Person, die ihre Geschichte so erzählt, dass andere Personen motiviert werden, über ihre zu berichten. Hält die Ausbreitung an, entsteht eine Bewegung.

Bestes Beispiel: die #MeToo-Bewegung, mit der Frauen sexuelle Übergriffe öffentlich machten. Am Anfang dieser Welle stand die bekannte Schauspielerin Alyssa Milano, die Filmemacher Harvey Weinstein anklagte.

Via Twitter und Facebook ging das viral um die Welt. Die Botschaft eroberte in vielen Ländern Radiosendungen, TV-Stationen und wurde von der Presse breit diskutiert. Beides zusammen war für die globale Ausbreitung der Bewegung entscheidend.

Herausforderung für die Parteien

Für Parteien und Komitees gilt es, ihre Kommunikation zu erweitern. Graf und Stern raten interessierten Lesern, nebst der bekannten Medienarbeit und der verbreiteten Werbung auch auf Crowd-Kampagnen zu setzen.

Da schieben sich Multiplikatoren zwischen die Zentrale und die Zielgruppen. Sie nehmen die Botschaften der Partei auf, und verbreiten sie angepasst auf ihre jeweilige Umwelt.

Fans brauchen keine Vertiefung

Weltweit führende Kommunikationsexperten wie Joel Penney nennen solche Menschen «citizen marketer», Bürger-Werber also! Ihr herausragendes Merkmal: Sie demonstrieren klare Positionen, leben Werte authentisch und haben in sozialen Medien möglich viele Gleichgesinnte. 

Dabei ist nicht die Tiefe der Information entscheidend, vielmehr geht es darum, Fan-Gemeinschaften zu schmieden.

Das erste Schweizer Twitter-Referendum

Campaigner Daniel Graf ist auch treibende Kraft in der Opposition gegen das neue Versicherungsgesetz. Und da wirkt er genau nach diesem Drehbuch. Vier Mitstreiter und Mitstreiterinnen haben ausserhalb der politischen Institutionen zum Referendum gegen die umstrittenen «Versicherungsspione» aufgerufen.

Prominenteste Sprecherin auf Twitter war die Schriftstellerin Sybille Berg. Mit ihren Verbündeten suchte sich 5000 Sammler, die sich verpflichteten, je zehn Unterschriften beizubringen.

Und siehe da: Der Funke sprang! Dies geschah nicht zuletzt wegen des enormen Interesses der Massenmedien für das erste Twitter-Referendum überhaupt. Nach nur 60 Tagen war man am Ziel, so dass es noch vor den nächsten Parlamentswahlen zu einer Volksabstimmung kommt.

Kein Grund zum übertriebenem Pessimismus

Man mag den Rückgang der abonnierten Presse beklagen. Zweifelsfrei ist der Rückgang des massenmedial vermittelten Abwägens von Sach- und Personenfragen. 

Übertriebener Pessimismus wie in der eingangs zitierten universitären Studie ist meines Erachtens jedoch fehl am Platz. Denn jenseits der notleidenden Presse zeichnet sich mit den digitalen Medien ein Gegentrend zur Mobilisierung von Meinungsverstärkern ab.

Was bei den eidgenössischen Wahlen 2019 genau geschehen wird, weiss man noch nicht so recht. Einiges ist bekannt, etwa dies: Man lanciert Crowd-Kampagnen, um andere Meinungsträger anzusprechen.

Wenig bekannt ist jedoch, ob sich auch Stimmbürger in ihrer ganzen Breite anstecken lassen. Wahrscheinlich ist, dass es einen Mix aus klassischer Medienarbeit, Werbung und neuartiger Mobilisierung geben wird.

Die Parteien

SVP: Schweizerische Volkspartei (rechtskonservativ)

SP: Sozialdemokratische Partei (Links)

FDP.Die Liberalen: Freisinnig-Demokratische Partei (rechtsliberal)

CVP: Christlichdemokratische Volkspartei (Mitte/Rechts)

GPS: Grüne Partei der Schweiz (Links)

GLP: Grünliberale Partei (Mitte)

BDP: Bürgerlich-Demokratische Partei (Mitte)

JUSO: Jungsozialisten (Links)

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