Der Griff der Populisten nach Volksabstimmungen und seine Folgen
In Deutschland hat das neue Populismus-Barometer eingeschlagen: «30,4 Prozent der deutschen Wähler sind populistisch eingestellt», zeigt die Studie 2018 an. Sie gibt aber auch in der Schweiz zu reden, wo die Erforschung des Populismus zunehmend an Bedeutung gewinnt.
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Mit Überschreiten der 30%-Marke sei Populismus in Deutschland in der politischen Mitte angekommen, schreiben die Autoren des Populismus-Barometers 2018Externer Link. Im Vorjahr hatte der Anteil der Wählenden mit populistischen Einstellungen noch vier Prozent tiefer gelegen. (mehr dazu in der Box am Schluss).
Die in der Studie aufgezeigte Entwicklung sorgt auch in der Schweiz für Diskussionen. Wie eine Umfrage bei Spezialistinnen und Spezialisten zeigt, betreffen diese aber nicht die Resultate selber. Im Vordergrund steht vielmehr die Definition. Strittig ist insbesondere der Punkt, ob die Forderung nach mehr Volksentscheiden, wie sie Populisten stellen, bereits populistisch ist oder nicht.
Was Populismus ist, bleibt kontrovers
Wolfgang Merkel, Leiter des Populismus-Barometers, nennt drei Punkte der Populismus-Definition: Erstens eine ausgeprägte Anti-Establishment-Haltung, die sich gegen die Regierenden richtet; zweitens ein deutlicher Anti-Pluralismus mit einer Vorstellung des Volks als grosse Einheit, und drittens eine klare Betonung der Volkssouveränität. Damit verbunden ist die Forderung nach mehr Mitspracherechten.
Mit den beiden ersten Punkten folgt die Studie den heute breit anerkannten Definitionen von Populismus, wie sie etwa der Experte Jan-Werner Müller von der Princeton University prominent vertritt. Umstrittener ist dagegen der dritte Punkt: Denn jüngst hat der niederländische Forscher Cas Mudde die etablierte Definition bewusst um das Streben nach Volkssouveränität als Kennzeichen von Populismus erweitert.
Man mag das als Spitzfindigkeit der Sozialwissenschaften abtun. Doch fände die Erhebung der Volkssouveränität zur politischen Richtschnur Eingang in die Populismus-Definition, hätte dies weitgehende Konsequenzen. Zugespitzt: Ist die Forderung nach Volksabstimmungen bereits populistisch?
Experten in der Schweiz uneinig
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Hier erforscht die Schweiz, wie sich Populismus auswirkt
Vorweg: Die drei Schweizer Politikforschenden stimmen darin überein, dass Abstimmungen als solche keineswegs populistisch sind. Die Meinungen sind nur darüber geteilt, ob diese ein geeigneter Indikator für Populismus sind.
Tarik Abou-ChadiExterner Link vom Zentrum für Demokratie in Aarau (ZDA) forscht seit geraumer Zeit zum Gebrauch von Volksabstimmungen durch Populisten. Abou-Chadi findet den Einbezug der Forderung nach mehr Volksabstimmung in die Definition von Populismus «vollkommen angemessen».
Das entspreche dem Wunsch nach mehr Unmittelbarkeit von Politik und der Skepsis gegenüber der Übertragung von Rechten, wie ihn beispielhaft die AfD (Alternative für Deutschland) äussert. An sich seien Volksrechte nicht populistisch, betont Abou-Chadi, als Bestandteil von Einstellungen aber zutreffend. «Entscheidend ist die gleichzeitige Bejahung dieser Wertung mit den sieben weiteren und verwandten Vorgaben, wie das die deutsche Studie macht.» Anders gesagt: Von einer populistischen Einstellung ist zu reden, wenn alle acht Indikatoren erfüllt sind, also auch inklusive Abstimmungen.
Kritischer äussert sich Nadja Braun BinderExterner Link, Juristin und Spezialistin für europäische Demokratiefragen und gleichfalls am ZDA. «Gerade in Deutschland gibt es mit der Initiative ‹Mehr Demokratie› eine namhafte Bewegung, die sich klar für mehr Volksabstimmungen einsetzt, sich aber bewusst von Populismus abgrenzt», kommentiert sie.
Deutlicher widerspricht Laurent BernhardExterner Link, Politologe an der Universität Lausanne. Er findet, Volksabstimmungen gehörten keinesfalls zum Bestandteil der Populismus-Definitionen. «In Deutschland wird das zwar so gesehen, aus Schweizer Sicht ist es aber bedauerlich.»
Bernhard verweist auf eine Publikation, die er mit seiner Kollegin Regula Hänggli von der Universität Fribourg verfasst hat. Sie biete eine brauchbare Umsetzung in Umfragen, sei 2015 in der Schweiz erprobt worden und verzichte ausdrücklich auf einen direkten Verweis auf Volksabstimmungen.
Volksrechte stärken Identifikation mit den Behörden
Die deutsche Studie geht klar vom Modell der repräsentativen Demokratie aus. Aus direktdemokratischer Sicht kann man kritisieren, dass Populismus eine demokratische, aber illiberale Form des Politisierens ist, die sich gegen liberale System mit Demokratiedefiziten wendet.
Die Schweiz mit ihrer grossen Erfahrung zu Volksabstimmungen weiss, was Demokratisierung zur Folge hat: Volksabstimmungen erweitern den Handlungsspielraum der Bürgerschaft – sowohl der populistischen wie auch der nicht-populistischen.
Volksentscheidungen geben Populisten ein Instrument in die Hand, das diese sowohl stärkt als auch schwächt: Populisten können mit Abstimmungen ihre Anliegen direkt vortragen, werden aber auch gefordert. Denn wer bei Volksabstimmungen regelmässig verliert, kann sich nicht dauerhaft als legitimer Volksvertreter bezeichnen.
Nicht zuletzt deshalb tauchen populistische Wellen in der Schweiz seit den 1960er-Jahren immer wieder auf, verschwinden aber mit ebenso grosser Regelmässigkeit wieder.
Der bleibende Effekt der Volksrechte für die Demokratie ist auf jeden Fall vorteilhaft: Fast nirgends auf der Welt ist die Identifikation der Bürgerschaft mit den Behörden so hoch wie in der Schweiz, dem Ursprungsland der direkten Demokratie. Und genau diese auf Vertrauen beruhende Identifikation ist das sicherste Bollwerk gegen die neue Macht des Populismus.
Die neuen Befunde für Deutschland
Das renommierte Wissenschaftszentrum in Berlin (WZB)Externer Link ist seit Jahren für das «Demokratie-Barometer» zuständig.
Vor einem Jahr publizierten die Autoren erstmals auch ein Populismus-Barometer. Die Anfang Woche publizierte Ausgabe 2018 zeigt auf, wie der Populismus die Parteienlandschaft Deutschlands umpflügt.
Studienleiter Robert Vehrkamp fasste die Ergebnisse so zusammen:
Trotz Zunahme bedrohten populistische Einstellungen die Demokratie Deutschlands nicht. Knapp 70% der Wählenden seien nicht-populistisch eingestellt.
Populistische Einstellungen beeinflussten aber die Wahl von Parteien. Eine lupenreine (rechts)populistische Partei ist demnach die Alternative für Deutschland (AfD). Sie profitiere einerseits vom populistischen Potenzial an sich, andererseits aber auch von dessen Wachstum.
Genau umgekehrt verhält es sich mit den Christdemokraten (CDU) und den Christlich-Sozialen (CSU) sowie den Freien Demokraten (FDP). Zwar nimmt auch bei diesen drei Parteien der Anteil von Wählern mit populistischen Präferenzen zu. Unter dem Strich aber verlieren diese Parteien aus anderen Gründen Wähler. Dies trifft auch auf die stagnierende Linkspartei «Die Linke» zu.
Profiteur der Veränderungen in der Parteienlandschaft ist das Bündnis’90/Die Grünen. Dessen Attraktivität im nicht-populistischen Potenzial wird hier zum eigentlichen Markenzeichen.
Gespalten ist dagegen die Sozialdemokratische Partei (SPD). Ihre Wählerschaft reicht sowohl ins populistische als auch ins nicht-populistische Lager hinein – und sie verliert auch in beiden.
Als Massnahmen gegen den Wählerverlust von nicht-populistischen Parteien schlagen die Autoren der von der Bertelsmann-StiftungExterner Link geförderten Studie vor, sich mehr für die europäische Integration zu engagieren und mehr sozialpolitische Programme zu unterstützen.
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