Radikalisierung in der Regierung
Die SVP ist gemäss einer Studie mit Parolen von kleinen rechtsextremen Gruppierungen zur wählerstärksten Partei geworden.
Diese Radikalisierung einer Regierungspartei bezeichnet der Politologe und Studienverfasser Oscar Mazzoleni im Gespräch mit swissinfo als einzigartig in Europa.
swissinfo: Kann das Phänomen «Schweizerische Volkspartei» (SVP) mit anderen europäischen Rechtsparteien im Alpenraum – Lega Nord in Italien, Freiheitspartei in Österreich (FPÖ), Front National in Frankreich – verglichen werden?
Oscar Mazzoleni: Der Kampf für die nationale Integrität der Nation und der Protest gegen die so genannte «Classe politique», welche die Volksinteressen nicht mehr vertrete, sind Themen von verschiedenen Parteien in Europa. Darunter auch der SVP von Christoph Blocher.
Im Unterschied zu diesen Parteien ist die SVP aber seit Jahrzehnten eine Regierungspartei. Und die Radikalisierung erfolgte trotz ihrer Präsenz in einer Koalitionsregierung. So gesehen ist die SVP ein einmaliger Fall in Europa.
swissinfo: Die SVP hat ihren Wähleranteil um 4,1% erhöht und Sitze auch in Kantonen erobert, in denen sie sich zum ersten Mal stellte (z.B. in Neuenburg). War ein solcher Erfolg vorhersehbar?
O.M.: Zwei Wochen vor den Parlamentswahlen schätzten die Umfragen den SVP-Anteil auf 25%. Das Überschreiten gar der 26-Prozentmarke hat dann alle überrascht. Eine Erklärung dieses Phänomens muss vor dem nur zögernden Eingeständnis eines Teils der SVP-Wählerschaft gesehen werden, das eigene Wahlverhalten überhaupt öffentlich zuzugeben.
swissinfo: Ueli Maurer hat die Kandidatur von Christoph Blocher für den Bundesrat präsentiert und den Austritt der SVP aus der Regierung für den Fall angedroht, dass Blocher nicht gewählt würde. Ist die Möglichkeit, eine reine Oppositionspartei zu werden, für die SVP überhaupt eine valable Option?
O.M.: Ich denke, dass die Ankündigung der Kandidatur Blochers Teil einer Strategie ist, angesichts der kommenden Bundesratswahlen Druck auf die Parteien der politischen Mitte auszuüben.
Will die SVP ihren Wähleranteil weiter steigern, hätte sie ja alles Interesse daran, ihren Führer aus der «Kompromissküche» des Bundesrates rauszuhalten. Der Einstieg Blochers ins Kollegialsystem käme einem harten Schlag für sein Image gleich, das ihn doch von anderen Politikern unterscheiden soll.
swissinfo: Inwiefern würde eine zweifache Regierungs-Verantwortung es der SVP noch erlauben, weiterhin die Outsider-Rolle zu spielen – als Partei fern von der Bundesberner «Classe politique»?
O.M.: Die SVP wird dann in ihrer Protestrolle gegen die «Classe politique» legitimiert, wenn am 10. Dezember der eventuelle (aber noch nicht sichere) neue SVP-Repräsentant nicht der von der Partei selbst aufgestellte ist, sondern von den Gegnern der SVP ausgewählt wird.
Sollte es zu einem zweiten Sitz kommen, handelt es sich dabei um die wahrscheinlichere Variante, in Anbetracht der entscheidenden Rolle, die den Freisinnigen und Christlichdemokraten im Ständerat zukommen.
swissinfo: Die SVP gewinnt mit ihrer politisch einfach gehaltenen und radikalen Sprache. Sind die fast 27% aller Wählerinnen und Wähler, die ihr zustimmen, wirklich für solche Botschaften zugänglich? Radikalisiert sich also die Mittelschicht tatsächlich?
O.M.: Die Wählerschaft der SVP ist in den vergangenen Jahren immer heterogener geworden. Zu den Bauern und Gewerbetreibenden aus den landwirtschaftlich geprägten Regionen haben sich Leute aus den unteren Mittelschichten der städtischen Gebieten gesellt. Interessant wäre zu wissen, ob der jüngste Wählererfolg nun auf einen Verhaltenswechsel der oberen Mittelschicht zurückzuführen ist.
Auch die verschiedenen Botschaften der SVP spiegeln diese Auffächerung. Man denke nur an die öffentliche Intervention zugunsten der Landwirtschaft in Kombination mit einer harten Kritik an den Staatsausgaben im allgemeinen.
Als charismatischer Leader bringt Blocher eben ganz unterschiedliche Botschaften unter einen Hut und schmiedet daraus ein einheitliches, sich nicht widersprechendes Ganzes für die Partei.
swissinfo: Anders gefragt: Folgt auf die Öffnung der SVP in Richtung Zentrumswählerschaft nicht die Tendenz, dass die Partei auch moderatere Ansichten vertritt?
O.M.: Mag sein, auf mittlere Frist jedenfalls. Kurzfristig jedoch folgt aus der Unzufriedenheit mit den Mitteparteien eher eine Polarisierung und deshalb eine Radikalisierung des politischen Umfelds.
Betrachtet man die Wählergeografie etwas näher, fallen einige interessante «Anomalien» auf. So verzeichnet die SVP ein fulminantes Wachstum in jenen Kantonen, in denen sie bisher unterrepräsentiert war. Anderseits stagniert sie dort, wo sie seit langer Zeit stark verwurzelt ist, wie in Appenzell Ausserrhoden oder Zürich. Der «Fall Zürich» überrascht, denn dort wurde ja die «SVP-Revolution» geboren…
In gewissen Fällen, ich denke gerade an Neuenburg, darf man den Effekt des Neuen nicht unterschätzen. Im Kanton Zürich bleibt die SVP bequem die erste Partei am Platz. Dass sie nun ein Mandat verloren hat, ist eher darauf zurückzuführen, dass sich die Gegner zusammengeschlossen haben, teils sogar unvorhersehbar, wie die Grünen und die CVP.
swissinfo: Eine andere «Anomalie» stellt Graubünden dar, wo die alte, traditionelle Ausrichtung der SVP noch hält und die Partei relativ moderate Positionen vertritt. Dennoch hat auch dort die Partei dazu gewonnen. Wie ist das zu erklären?
O.M.: Teils sind diese regionalen Effekte auf die Stärke der Kandidaturen zurückzuführen. Ich würde ausserdem einen unvorhergesehenen Blocher-Effekt nicht ausschliessen, der auf nationaler Ebene zustande kam. Die Meinung der Wählerschaft spiegelt ja nicht in absoluter Weise jene der gewählten Kandidaten.
Dies trat auch nach den Parlamentswahlen von 1999 im Kanton Bern ein. Bei einer Reihe von Themen lag die Berner Wählerschaft näher bei den Positionen der Zürcher SVP als bei der eigenen in Bern.
swissinfo-Interview: Andrea Tognina
(Übersetzung aus dem Italienischen: Alexander Künzle)
Erschienen ist die erwähnte Studie auf Französisch: Oscar Mazzoleni, Nationalisme et populisme en Suisse. La radicalisation de la «nouvelle» UDC. Lausanne, Le Savoir Suisse, 2003.
Wählerstärkste Partei ist die SVP: 26,6% (1999: 22,5)
SP: 23,3% (22,5)
FDP: 17,3% (19,9)
CVP: 14,4% (15,9)
Grüne: 7,4% (5)
Zum ersten Mal in der Geschichte der Schweiz kommen die Themen und Slogans der populistischen und nationalistischen Rechten nicht mehr nur von Kleinparteien am Rand der politischen Systems. Sondern sie gehören zu einer Partei, die seit 1929 in der Regierung integriert ist.
Dies der zentrale Befund einer Studie des Leiters des Forschungsinstituts für Politik des Kantons Tessin (Ustat), Oscar Mazzoleni.
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