Die Türkei oder wie schnell Demokratie prekär werden kann
Trump, Brexit, Populismus, Nationalismus: Im Umfeld zunehmend schriller Töne und ausgrenzender Politik wirkt ein Kongress mit dem Titel "Die Demokratie verteidigen!" als Magnet. Das bezeugen die 1500 Teilnehmenden, die in Basel an drei Tagen nach Antworten und Lösungen suchen. Der Auftakt zeigte, dass demokratische Rechte und Mechanismen nie garantiert sind, sondern ganz schnell weg sein können.
Dieser Beitrag ist Teil von #DearDemocracy, der Plattform für direkte Demokratie von swissinfo.ch.
Die Live-Schaltung im übervollen Hörsaal der Universität Basel klappt – Eren KeskinExterner Link erscheint gross auf der Leinwand. Fast gemütlich sitzt sie daheim vor ihrem Computer. Aber das Bild trügt: Die 57-jährige türkische Menschenrechtsanwältin ist bereits eine Gefangene in ihrem Land: Sie kann die Türkei nicht mehr verlassen und muss sich allwöchentlich auf dem Polizeiposten melden.
«Ich war bei der Zeitung Özgür GündemExterner Link die Verantwortliche für Presserecht», erklärt Eren Keskin den Grund, weshalb ihr der Pass abgenommen wurde. Präsident Erdogan liess die Zeitung im August schliessen unter der Anschuldigung, sie mache Propaganda für die kurdische Befreiungsorganisation PKK.
Als zentrale Grundrechte (vgl. dazu auch die Box) nennt Keskin das Recht auf Leben, gefolgt vom Recht auf Meinungsfreiheit und der Pressefreiheit. Fast nebenbei erklärt sie, dass die türkische Justiz gegen sie über 140 Strafverfahren eröffnet habe. Vorgeworfen werden ihr Beleidigung des Staatspräsidenten, Volksverhetzung und Mitgliedschaft in einer illegalen, terroristischen Organisation.
«Dialektik von Grundrechten und Demokratie»
In einem Workshop mit an die 100 Teilnehmenden (!) plädierten Juristinnen und Juristen des Denknetzes «für eine Politisierung der Grundrechte».
Viktor Györffy, RechtsanwaltExterner Link und Präsident des Vereins grundrechte.chExterner Link, definierte sie als «die Summe der Rechte, die jedem Menschen zustehen und die Voraussetzung für dessen politische Teilhabe sind».
Györffy sieht die Grundrechte (GR) als «dynamisch»: Sie seien nicht aus dem Naturrecht ableitbar, sondern müssten stets aufs Neue ausgehandelt werden.
GR alleine garantierten in einer Demokratie noch keine Gerechtigkeit. Erst ein politischer Einsatz der GR fördere egalitäre, demokratische Effekte, weil sich damit Machtverhältnisse infrage stellen liessen. «Ohne Demokratie keine Grundrechte, ohne Grundrechte keine Demokratie.»
Sein Aufruf: «Beharren wir auf der emanzipatorisch-utopistischen Sprengkraft der Grundrechte.»
Auswahl von Grundrechten der Schweizer. Verfassung: Würde d. Menschen, Gleichheitsgebot, diverse Freiheitsrechte, Verfahrensgarantien, Wirtschaftsfreiheit, Schutz des Eigentums.
Eine erste Gefängnisstrafe von 6 ½ Jahren ist schon ausgesprochen, aber aufgrund ihrer Beschwerde noch nicht vollzogen. Aber schon morgen könne sie verhaftet und lebenslänglich ins Gefängnis gesteckt werden. «Bis dahin bin ich jeden Tag im Gericht, um andere Menschen und mich selbst zu verteidigen.»
Entlassen, und danach im Nichts
Im Gegensatz zur Repression in den 1990er-Jahren herrsche heute auch ein sehr starker ökonomischer Druck. Dies aufgrund der vielen Entlassungen. «Wir leben in einer Angstgesellschaft», sagt Keskin.
Erdogans Verfassungsänderung zur Einführung des Präsidialsystems, die momentan vom türkischen Parlament abgesegnet wird, ist für Keskin die «komplette Aufhebung der Gewaltenteilung»: «Alle 18 Artikel bündeln die Macht des Präsidenten. Darin spiegelt sich, dass nicht nur der Präsident, sondern auch das Parlament nicht demokratisch ist.»
Mit der Aussetzung der Menschenrechte verletze die Türkei Grundübereinkommen, hält die Anwältin fest. Aber Europa schaue weg. «Das ist eine dreckige Politik», sagt Keskin.
Woher sie die Kraft für ihren Kampf nehme, fragt ein Zuhörer. «Ich habe gelernt, mit der Angst zu leben. Aber mein Lebenselixier sind der Mut und die Gewissheit, dass nicht wir etwas falsch gemacht haben, sondern der Staat.»
«Noch nie so alleingelassen gefühlt»
Wie sie am besten unterstützt werden könne, so eine andere Frage. In den 1990er-Jahren seien viele internationale Delegationen gekommen und hätten über die Repression in der Türkei berichtet. Das sei jetzt kaum mehr der Fall. «Ich habe mich noch nie so alleingelassen und aussichtslos gefühlt wie jetzt», klagt sie. Die gebannten Zuhörer in der Schweiz ermutigen sie mit sehr langem Applaus.
Danach wird Eyüp BurcExterner Link aufgeschaltet, Gründer von IMC TV, des ersten kurdischen TV Senders in Deutschland. 2001 zügelte er IMC TV zurück in die Türkei, wo der Sender Ende September 2016 geschlossen wurde. Nun versucht Burc, der zur Minderheit der Jesiden gehört, sein Medium erneut von Deutschland aus zu lancieren, diesmal im Internet.
«Ich habe IMC TV aus demokratischer Notwendigkeit gegründet, als Antithese zu den Medien des türkischen Mainstreams, die durch die fünf Begriffe Militarismus, Sexismus, Nationalismus, Rassismus und Staatszentrismus definiert sind. Damit war kein Prozess der Demokratisierung möglich.»
Obwohl im Zuge des Ausnahmezustands sämtliche kritischen TV-Sender geschlossen worden seien, gebe es noch ein paar kleine Zeitungen mit kritischer Ausrichtung, berichtet Burc, bevor sein bärtiges Antlitz von der Grossleinwand verschwindet. «Stromausfall», meldet er sich nach ein paar Minuten wieder zurück.
«Ein Mann, eine Partei, ein Staat, ein Volk»
Erdogan bezeichnet er als Diktator, der nach dem Prinzip «Ein Mann, eine Partei, ein Staat, ein Volk» herrsche. «Mit der Abstimmung über die Präsidialverfassung will er nun seinen Status als Diktator legalisieren», so Burc.
Was den möglichen Ausgang betrifft, gibt er sich überraschend hoffnungsvoll. «Viele glauben den Mainstream-Medien nicht mehr. Und aufgrund der jüngsten Debatte im Parlament haben viele Menschen die Lüge Erdogans erkannt, dass die Reform nicht dem Volk zu Gute kommt, sondern ihm und seiner Familie.
Täuscht die nicht ganz optimale Bildqualität, dass der zweite lange Applaus an diesem Kongresstag dem gestandKämpfer für demokratische Freiheiten Tränen der Rührung in die Augen treiben?
«Reclaim Democracy»
Der internationale Kongress findet vom 2. bis 4. Februar an der Universität Basel statt. Hauptthemen sind die aktuellen Herausforderungen für die Demokratien weltweit.
Im Zentrum stehen vier Plenarveranstaltungen: Substanzielle Demokratie und Buen Vivir; Europa und die Demokratie des Alltags; Rassismus, Nationalismus, Demokratie und Demokratie, Bewegung, Partei. Dazu können die Teilnehmenden aus 50 Ateliers auswählen.
Teilnehmende (Auswahl): Alberto Acosta (ex-Bergbauminister Ecuador), Jodi Dean (Philosophin/Politikwissenschaftlerin), Andreas Gross (Politikwissenschaftler), Jakob Tanner (Historiker), Cédric Wermuth (sozialdemokrat. Parlamentarier), Bruno Gurtner (Tax Justice Network), Tamara Funiciello (Präsidentin Juso/JungsozialistInnen Schweiz).
Veranstalter des Kongresses ist Denknetz, eine unabhängige Organisation, die vorwiegend ein linkes und globalisierungskritisches Spektrum abdeckt.
Es zählt knapp 1200 Mitglieder und Organisationen aus Wissenschaft, Politik und Gesellschaft.
Denknetz setzt sich für die Ausweitung der Demokratie auf alle relevanten gesellschaftlichen Bereiche und Prozesse ein.
Beteiligt sind auch das Seminar für Soziologie der Universität Basel sowie 23 Organisationen aus dem In- und Ausland.
Schreiben Sie dem Autor auf Twitter: @RenatKuenziExterner Link
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