«Reine Traditionspflege führt in eine Sackgasse»
Mitgliederschwund in den Schweizer Vereinen und Spardruck des Bundes: Die Probleme sind nicht neu, aber ernst. Dies haben die Auslandschweizer in Deutschland an ihrer Jahreskonferenz in Rostock erkannt. Es herrscht Aufbruchstimmung.
Sie kamen aus Berlin, München und Kassel – aus Bremen, Dresden, Hamburg – aus Freiburg oder Schleswig-Holstein. Viele der insgesamt 85 Auslandschweizerinnen und -schweizer reisten hunderte Kilometer, um am Jahrestreffen an der Ostsee dabei zu sein.
Erstmals fand die Konferenz an einem Ort statt, wo es keinen Schweizer Verein gibt. Gerne hätte man in Rostock die Gründung eines Schweizer Clubs verkündet, doch diese Hoffnung hat sich vorerst zerschlagen.
«Wir haben den Landsleuten vor Ort vielleicht etwas zu viel Schweiz zugemutet», meint Elisabeth Michel, Präsidentin der Auslandschweizer-Organisation Deutschland.
Das Leben in dieser Gegend sei hart, meint Beatrix Käppeli, die seit sechs Jahren in Rostock lebt. «Es ist schwierig, Unterstützung für einen Verein zu bekommen. Die Leute hier sind wegen der wirtschaftlich harten Lage sehr mit sich selber beschäftigt.»
Laut Monika Uwer-Zürcher, die seit Jahren in Brandenburg wohnt, im Speckgürtel Berlins, sind die Leute in den Neuen Bundesländern gegenüber dem öffentlichen Leben und der Vereinskultur skeptisch eingestellt. «Man schirmt sich lieber ab.»
Über die Vergangenheit hinauswachsen
Vereine zu gründen ist das eine, Nachwuchs für die bestehenden zu finden, ein anderes Problem.
Als der Schweizer Botschafter in Berlin, Christian Blickenstorfer, die Vereine als «bescheidene Unterhaltungs-Organisationen» bezeichnete, die für jüngere Leute wenig interessant seien, schluckte zwar der eine oder die andere zweimal leer.
Aber das Problem lag auf dem Tisch. Und auch wenn sich viele vor den Kopf gestossen fühlten, wurde die Botschaft verstanden. Vreni Stebner aus Hamburg: «Der Botschafter will uns mit seinem Statement wachrütteln.»
Was auch dringend nötig ist. Denn dass mit Raclette und Jassen keine Neumitglieder zu gewinnen sind und man neue Wege gehen muss, ist den meisten klar.
«Reine Tradition ist eine Sackgasse», betont Peter S. Kaul, Vizepräsident der ASO-Deutschland und Honorarkonsul in Dresden gegenüber swissinfo. «Um attraktiv zu sein, brauchen wir die drei Pfeiler Tradition, Wirtschaft und Kultur.»
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ASO
Vernetzung – Kompetenz vor Ort
Nebst dem Dauerthema Auffrischung der Vereine stand in Rostock die Zusammenarbeit zwischen dem Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) und der ASO im Zentrum der Debatte.
Seit kurzem besteht eine Arbeitsgruppe EDA-ASO. Dabei geht es besonders um den Bereich konsularische Dienste. Sollten weitere Konsulate geschlossen werden, brauche es Alternativen, so die ASO.
Allerdings steht die offizielle Schweiz dem Vorschlag skeptisch bis ablehnend gegenüber, dass Honorarkonsule Aufgabenbereiche der Konsulate übernehmen. Honorarkonsule vertreten im Rahmen eines nebenamtlichen Mandats die schweizerischen Interessen im Ausland – sie sind nicht vom Bund angestellt.
«Es ist heikel, die Vereine in die Informationsnetze mit einzubeziehen. Das Risiko von Falschinformationen ist gross», sagt Hermann Aebischer, Botschaftsrat und Leiter konsularische Abteilung in Berlin.
Der Realität ins Auge blicken
Es sei ein Faktum, so Gerhard Lochmann, Honorarkonsul aus Freiburg, dass in Deutschland Konsulate geschlossen würden, wenn China interessanter werde. «Etwas weniger Wehleidigkeit wäre angebracht.»
Honorarkonsule könnten die Aufgaben von Generalkonsulaten nicht übernehmen, aber bei der Pflege der Beziehungen, der Vernetzung und beim Informationsaustausch mithelfen, so der Rechtsanwalt.
Dass die Auslandschweizer angesichts der gespannten Finanzlage der Eidgenossenschaft im Moment kaum auf Gelder für zusätzliche Leistungen und Instrumente hoffen können, machte Botschafter Markus Börlin, Chef des Auslandschweizerdienstes im EDA klar.
Er betonte die gute Zusammenarbeit zwischen EDA und ASO und ermutigte die «Rostocker», auf der persönlichen Ebene aktiv zu werden. «Es gibt zu viele formelle Abläufe. Kommt in meinem Büro in Bern vorbei!»
Schweizer Revue vor dem Aus?
Dass im EDA hart um Gelder gerungen wird, bekamen die Auslandschweizer vor Ort zu spüren: So ist laut ASO-Direktor Rudolf Wyder das «Amtsblatt» der Fünften Schweiz, die «Schweizer Revue» in Gefahr. Diskutiert wird, ob die Revue künftig nur noch auf Bestellung abgegeben oder als Printausgabe ganz eingestellt werden soll.
Laut Wyder ist es Aufgabe des Bundes, seine Landsleute im Ausland zu informieren, damit sie am politischen Geschehen in der Schweiz teilhaben können. «Die Revue erfüllt diese Aufgabe und ist auch ein wichtiger Kanal für die Konsulate in den Regionen.»
Die in Rostock Anwesenden wollen die Sparkröte nicht schlucken und verabschiedeten – wie bereits ihre Landsleute in Frankreich Ende April – einstimmig eine Resolution. Darin appellieren sie an Aussenministerin Calmy-Rey, alles zu unternehmen, damit die «Schweizer Revue» in der jetzigen Form weiterhin an alle Mitbürgerinnen und Mitbürger im Ausland abgegeben wird.
swissinfo, Gaby Ochsenbein, Rostock
Über 650’000 Schweizerinnen und Schweizer wohnen im Ausland.
Die Mehrheit der Auslandschweizer lebt in der Europäischen Union.
Knapp 120’000 haben sich in einem Stimmregister eingetragen lassen, um an Wahlen und Abstimmungen teilnehmen zu können.
Die Jahreskonferenz der Auslandschweizerinnen und –schweizer in Deutschland fand vom 1. bis 4. Mai in Rostock statt, erstmals nicht am Sitz eines Vereins.
24 der insgesamt 40 Schweizer Vereine Deutschlands waren mit 85 Mitgliedern anwesend.
In Deutschland leben gut 75’000 Schweizerinnen und Schweizer.
3145 von ihnen sind in Vereinen organisiert. Das sind fast 100 weniger als im Jahr zuvor.
Die ASO Deutschland hat in den letzten 15 Jahren über 500 Mitglieder verloren, obwohl die Zahl der Schweizer in Deutschland gestiegen ist.
Die Hansestadt Rostock an der Ostsee ist die grösste Stadt des neuen deutschen Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern.
Da Rostock mit seinen Flugzeugwerken im Zweiten Weltkrieg ein Schwerpunkt der Rüstungsindustrie des Deutschen Reiches war, wurde die Stadt 1942 schwer bombardiert. Die Hälfte der Stadt wurde zerstört.
Dank dem wirtschaftlichen Aufschwung in der Nachkriegszeit wuchs die Stadt auf 250’000 Einwohner. Nach der Wende ging die Bevölkerungszahl auf 200’000 zurück.
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