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Rezepte zur Sanierung der Sozialversicherungen

Die Sozialhilfe soll nicht zum Ruhekissen werden. Ex-press

Die Zukunft der schweizerischen Sozialversicherungen wird eines der grossen Themen in der nächsten Legislatur. Das Ziel ist dasselbe, aber die Wege dahin unterscheiden sich.

Während der laufenden Legislatur hat sich die politische Welt mehrmals mit den Sozialversicherungen auseinandersetzen müssen. Über die Besonderheiten hinaus, die jede Versicherung im Einzelnen hat, bleiben die Sorgen dieselben.

Die Anzahl der Bezüger von Versicherungsleistungen ist angestiegen. Das ist ein finanzielles Problem.

Alterung der Bevölkerung

Was die Alters- und Hinterlassenen-Versicherung (AHV) betrifft, ist es die zunehmende Alterung der Bevölkerung, die problematisch ist. Die Lebenserwartung hat sich verlängert, in der Schweiz gibt es immer mehr Rentner und weniger Erwerbstätige.

Die Idee, das Rentenalter zu erhöhen – es liegt im Moment bei 64 Jahren für die Frauen und 65 Jahren für die Männer – liegt schon lange in der Luft. Aber der erste Schritt zur Erhöhung des Rentenalters für Frauen ist noch nicht vollzogen.

Im Parlament schien sich diesbezüglich ein Kompromiss abzuzeichnen. Der Erhöhung des Rentenalters der Frauen sollte durch Finanzierungshilfen, die den flexiblen Rücktritt bei niedrigen Einkommen vereinfachen sollen, aufgefangen werden. Dieser Kompromiss wurde von der linken Opposition aber abgelehnt. Sie war der Meinung, dass die Finanzhilfe nicht genüge, und die Eidgenössische Demokratische Union (EDU) wollte nicht, dass mit dem eingesparten Geld neue Leistungen finanziert werden.

Um die Kosten der AHV einzudämmen, hat die bürgerliche Mehrheit im Parlament auch akzeptiert, dass der Umwandlungssatz für die dritte Säule auf 0.4 Prozent gesenkt wird.

Gegen diese Senkung des Umwandlungssatzes ergriff die Linke das Referendum. Die Erhöhung wurde vom Volk abgelehnt. Was die Renten betrifft, geht die Legislatur ohne grosse Umwälzungen zu Ende.

Auswirkung der Krise

Vorwärtsgegangen ist es hingegen in Bezug auf die Indvalidenversicherung (IV) und die Arbeitslosenversicherung (AL). Unter dem Einfluss der Wirtschaftskrise sind diese zwei Versicherungen besonders unter Druck geraten.

Mit einer massiven Zunahme der Leistungsbezüger, besonders derjenigen, die aus psychischen Gründen den Anforderungen der Arbeitswelt nicht gewachsen sind und derjenigen, die arm sind, hat die IV ein Defizit von über 13 Milliarden Franken angehäuft.

Um die Kosten wieder in den Griff zu bekommen, haben die Parlamentarier verschiedene Massnahmen angewendet: Strengere Kriterien bei der Zuteilung neuer Renten, Verbesserungen der Wiedereingliederungsmassnahmen in die Arbeitswelt, und vor allem eine zeitliche begrenzte Erhöhung der Mehrwertsteuer, um das Finanzierungsloch zu stopfen.

Die Arbeitslosenversicherung wurde von der Zunahme der Arbeitslosen mit voller Wucht getroffen. Angesichts der Verschlechterung der finanziellen Gesundheit der Versicherung haben die Parlamentarier die gleichen Rezepte angewendet wie für die IV, einerseits mit einer besseren Finanzierung über den Umweg der Erhöhung der Beiträge und andererseits durch Schnitte bei den Leistungen.

Zwischen Abbau und Kosmetik

Gemäss ihrer politischen Zugehörigkeit ziehen die Parlamentarier nicht die gleiche Bilanz von dem, was unternommen wurde. Für die Linke gehen die Beschlüsse in Richtung Abbau der Sozialwerke.

«Weltweit beobachten wir einen Abbau. Wir haben diesen die ganze Legislatur hindurch festgestellt. In einigen Bereichen wurde trotzdem viel Geld ausgegeben, wie für die tiefen Unternehmenssteuern. Hier gibt es eine asymmetrische Entwicklung zuungunsten der Sozialversicherungen», sagt der sozialdemokratische Ständerat Alain Berset.

Für die Rechte hingegen wurden die Probleme der Sozialversicherungen nicht richtig gelöst. «Wir leben in einem Land der Kompromisse, wo es extrem schwierig ist, das, was als soziale Errungenschaft angesehen wird, in Frage zu stellen», analysiert der Abgeordnete der Schweizerischen Volkspartei (SVP), Dominique Bättig.

«Es existiert viel guter Wille und es gibt viele Ideen, aber das Resultat der Kompromisse und des Drucks von verschiedenen Seiten hat bewirkt, dass die Veränderungen eher symbolischer Natur sind. Wir nehmen einige kleine, kosmetische Korrekturen vor, um ein reines Gewissen zu haben und vor allem, um das Problem auf später zu verschieben.»

Zwischen diesen beiden Polen verteidigen die Mitteparteien die Bilanz ihrer ausgeglichenen Politik, die es erlaubt hat, die nötigen Massnahmen zu ergreifen, ohne die Leistungsbezüger zu stark zu bestrafen.

«In Bezug auf die Konsolidierung der Sozialversicherungen kommen wir in kleinen Schritten voran», sagt auch Christophe Darbellay, Nationalrat und Präsident der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP). Wer die Kritik anderer Parteien anspricht, dem wird sofort entgegengehalten: «Die Sozialdemokraten schreien jeweils Zetermordio, wenn man einen Franken einsparen will, und die SVP greift so sehr zur Kettensäge, dass es keine Sozialversicherung in diesem Land mehr geben würde, wenn man sie machen lassen würde», sagte er.

Auf der gleichen Linie

Nach den eidgenössischen Wahlen im Oktober werden die Parteien auf der gleichen Linie bleiben. Wer die Parteiprogramme liest, stellt fest, dass allen die Sozialwerke sehr wichtig sind, und dass sie alle behalten wollen. Aber die Vorschläge, wie dies zu erreichen ist, sind verschieden.

Die Mitteparteien wollen auf der Schiene «Anpassung der Sozialwerke an die heutige Realität» weiterfahren, wie die CVP schreibt. Eine Anpassung, die zum Beispiel die Anhebung des Rentenalters für Frauen auf 65 Jahre bedingt. Die Freisinnig-Demokratische Partei (FDP) ist auf der gleichen Linie, wenn sie schreibt, dass sie «die Sozialversicherung aus dem Abgrund sanieren will.»

Die SVP stellt in ihrem Parteiprogramm fest, dass «der Sozialstaat unserer Kontrolle entgleitet und Kosten für die kommenden Generationen schafft». Um den Ruin zu verhindern, hat die rechtskonservative Partei ihr Credo: Keine neuen Leistungen, Korrektur von den Leistungen und Verfolgung der Missbrauchsfälle, vor allem jener der Ausländer. Und die SVP ist der Meinung: «Die Sozialhilfe sollte nicht als Liegestuhl dienen.»

Die Linke schliesslich mobilisiert gegen den Abbau der Sozialwerke. «Wenn man sieht, wie leicht es geht, Milliarden für Steuersenkungen auszugeben für Grossaktionäre und zur Rettung der Banken, hat man etwas Mühe zu verstehen, dass es schwierig wird, die Sozialversicherungen zu finanzieren. Sie sind das Juwel unseres Sozialstaates», sagt Alain Berset.

Man muss sehr vorsichtig sein, wenn man den Abbau weitertreiben will. Sonst gehen wir in Richtung einer Teilung, einer Spaltung und einer Individualisierung der Gesellschaft, die uns früher oder später teuer zu stehen kommen wird.»

Im Rahmen der letzten Legislatur konnte sich das Volk dreimal zu Vorlagen, die die Sozialversicherungen betrafen, äussern. Vorlagen zu Fragen, welche die Krankenkassen betreffen, sind nicht eingerechnet.

Invalidenversicherung: Am 27. September 2009 haben die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger mit 54,6% einer Erhöhung der Mehrwertsteuer zu Gunsten der Invalidenversicherung zugestimmt. Die normale Mehrwertssteuer wurde um 0,4 Punkte erhöht, die reduzierte Mehrwertsteuer (Bücher, Medikamente, Lebensmittel) um 0,1% und der spezielle Mehrwertsteuer-Tarif (Hotellerie) um 0,2%. Diese Erhöhung ist limitert auf sieben Jahre.

Berufliche Vorsorge: Am 7. März hat das Volk mit 7,7% Prozent abgelehnt, den Umwandlungssatz der beruflichen Vorsorge von 6,8% auf 6,4% zu senken, wie es das Parlament vorgeschlagen hat. Damit hätte ein Kapital von 100’000 Franken anstatt eine Rente von 6’800 Franken pro Jahr nur noch eine von 6400 Franken gegeben.

Arbeitslosenversicherung: Am 26. September 2009 hat das Stimmvolk einer Änderung in der Gesetzgebung der Arbeitslosenversicherung zugestimmt. Sie sieht vor, dass die Beiträge erhöht werden und die Einführung eines Solidaritätsbeitrages für hohe Einkommen. Verschärft wird das Gesetz im Bereich der Leisungen, besonders für die jungen Leute.

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