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Rotes Kreuz und Globalisierung in Nyon

Kamen in Genuss von Hilfe des Komitees vom Roten Kreuz: Ungarische Kinder. Vision du Réel/CICR

Bilder vom Krieg gehören zu jedem Filmfestival. Nyon präsentiert Bilder vom Anfang des vergangenen Jahrhunderts: Restaurierte Propagandafilme des IKRK.

Dass die Welt nicht gerechter geworden ist, zeigen Filme für den Unterricht an Schweizer Schulen.

«Es hat sehr gut angefangen, die Säle sind voll», freut sich Jean Perret, Direktor des Visions du Réel (VDR), im Gespräch mit dem neuen Direktor des Bundesamts für Kultur, Jean-Frédéric Jauslin. In wenigen Minuten beginnt am Mittwochabend die erste öffentliche Projektion der Doppel-DVD «Cinéma et Humanitaire».

Filmdokumente aus den 1920er-Jahren

Gezeigt werden Filme aus den Archiven des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK). Restauriert wurden die Filmrollen von Memoriav, dem Verein zur Erhaltung audiovisueller Dokumente.

Da stehen verwahrloste Kriegsgefangene im Durchgangslager des IKRK in Estland und warten auf ihr Transport-Schiff, das sie ins sowjetische Russland bringen soll. Umgekehrt transportiert das Schiff auf dem Rückweg deutsche Kriegsgefangene in Richtung des geschlagenen Reichs.

Zerbombte Quartiere ziehen vorbei, Kinder in Ungarn werden gefüttert, in der IKRK-Zentrale tippen Dutzende von Sekretärinnen Berichte.

Die Bilder der schwarzweissen Stummfilme wirken steif und künstlich, zeugen von einer Zeit, wo IKRK-Delegierte noch Armbinde, Hut und Ledermantel trugen. Die Humanitären packen Kinder unsanft am Kragen, um sie in die Schlange zur Essensverteilung zu stellen, nehmen auch mal einen Löffel aus dem Napf eines halbverhungerten Buben; sicher gut gemeint, aber aus heutiger Sicht löst das ein schauriges Gruseln aus.

Betroffenheit und Hilfe via Bilder

«Es sind Propagandafilme, ich brauche absichtlich diesen Ausdruck, sie zeigen die kriegsgeschädigte Zivilbevölkerung nach dem Ersten Weltkrieg», sagt Bertrand Bacqué vom VDR in der Diskussion nach der Vorstellung.

«Das IKRK hat 1995 entschieden, seine Archive zu öffnen», erinnert sich Jean-François Pitteloud, Archivar beim IKRK. «Das ist immer auch ein Risiko, weil es einen externen Blick auf die eigene Arbeit zulässt. Es ist aber auch eine Chance.»

Aus den 300 Kisten Material in der Genfer IKRK-Zentrale hat der Filmer Jean-Blaise Junod auch den Film des schwedischen Roten Kreuzes von einer Hungersnot in Russland herausgesucht: steifgefrorene Leichen, gestapelt auf einem Friedhof, Nahaufnahmen von Hungertoten, zitternde Kinder nahe dem Tod. Diese Bilder haben in den 1920er-Jahren eine der bis heute grössten Kampagnen des IKRK ausgelöst.

«Seither hat niemand mehr diese Bilder gesehen», erklärt der Historiker Enrico Natale, der ebenfalls am DVD-Projekt mitgearbeitet hat.

Afrika in der Schule

Szenenwechsel, Rückkehr in die Gegenwart: «Memory, wo warst du?» Memory, das 11-jährige AIDS-Waisenkind in Afrika, liegt auf dem Trottoir. Die ganze Nacht ist sie nicht zur Clique von Strassenkindern um ein rauchiges Feuer zwischen den Bahngeleisen am Stadtrand zurück gekommen.

Das Mädchen, das sich auf den Strassen als Bub ausgibt, wurde vergewaltigt. «Es waren so viele, ich konnte sie nicht zählen.» Stunden später sammelt sie auf dem Markt schon wieder Bohnen vom Boden auf und verkauft sie.

Sampa Kangwa und Simon Wiklie zeigen mit «Imiti Ikula» keine heile Welt. Der 26-minütige Film läuft im Spezialprogramm «Fenster Nord-Süd». Es zeigt Filme, die für den Unterricht in Schweizer Schulen angepasst und auf DVD erhältlich sind.

Mitfinanziert werden sie von fünf Schweizer Hilfswerken, der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) und dem Migros Kulturprozent.

«Die Filme sollen das Leben, den Alltag und die Träume zeigen», erklärt Charly Maurer von der Stiftung Bildung und Entwicklung, die ebenfalls am Projekt beteiligt ist. «Die Jugendlichen in der Schweiz sollen lernen, die Nord-Süd-Problematik zu analysieren. Was sie dann damit tun, das überlassen wir ihnen.»

Fussball, Tabak und schwarze Sonne

So spielen in «Adelante Muchachas» der Filmerin Erika Harzer junge Frauen in Honduras Fussball. Die einen gehen auf teure Privatschulen, andere kommen aus den Slums am Stadtrand. Auf dem Spielfeld werden sie nicht gleich, aber sie lernen sich kennen und respektieren.

In «Wald für den blauen Dunst» folgt Peter Heller dem Journalisten John Waluye, der in Tansania den Machenschaften der grossen Zigarettenfirmen nachgeht, welche den Süden als neuen Markt erschliessen.

Er wandert durch Wälder, die abgeholzt wurden, um den Tabak zu trocknen; er spricht mit dem Manager des Zigaretten-Multis, der keine Antworten geben will; er sitzt im Nobelhotel, als Miss Tansania gewählt wird, gesponsert von einer Zigarettenmarke und er weiss, dass auch seine Zeitung von deren Werbung abhängig ist.

Es ist keine einfache Welt, welche diese Filme ins Schulzimmer bringen. Aber es ist keine Welt ohne Freude: Memory schafft es, eine Schutzbrille aus Folie zu kaufen und die Sonnenfinsternis anzuschauen. Die Kamera verfolgt keine afrikanische Trauergeschichte mehr, sondern eine kleine Erfolgsstory. Und vielleicht wird uns bewusst, dass wir in dieselbe Sonnenfinsternis geschaut haben.

swissinfo, Philippe Kropf in Nyon

Humanitaire et Cinéma, Films CICR des années 1920, Doppel-DVD, Englisch und Französisch

Imiti Ikula, Sampa Kangwa und Simon Wilkie, 26 Minuten

Forêt contre fumée bleue, Peter Heller, 2003, 30 Minuten

Adelante Muchachas!, Erika Harzer, 2004, 33 Minuten

In Nyon wurde eine DVD mit Aufnahmen des IKRK aus den 1920er-Jahren vorgestellt.

Vor zehn Jahren öffnete das IKRK seine Archive, Memoriav hat die Filme restauriert.

Die Probleme der Globalisierung wollen Filme für Jugendliche ins Schulzimmer bringen.

Sie liefen an einem Extra-Anlass am Filmfestival.

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