«Rotkreuz-Idee wird heute noch missachtet»
Hilfe bei einer allfälligen Aufnahme der Schweiz von Guantanamo-Gefangenen, Kriege in Gaza und Sri Lanka, Konflikte an Schweizer Schulen: Kein Kinderspiel für das Schweizerische Rote Kreuz. swissinfo-Interview mit SRK-Präsident René Rhinow.
Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Neutralität: Das sind Grundsätze der 1863 von Henry Dunant gegründeten Rotkreuz-Bewegung. Grundsätze, die es in einer Welt der Kriege, Konflikte und Katastrophen schwer haben, wie SRK-Präsident René Rhinow im Gespräch mit swissinfo erklärt.
Seit Oktober 2001 steht der ehemalige freisinnige Ständeratspräsident dem SRK vor, einer historisch gewachsenen Institution, die zahlreiche, vielfältige Tätigkeiten im In- und Ausland ausübt.
swissinfo: Kriege, Krisen, Katastrophen weltweit: Nach welchen Kriterien entscheidet das SRK, wo es eingreifen will?
René Rhinow: Normalerweise greifen wir bei grossen Katastrophen ein, bei denen wir die Mittel erhalten. Dort, wo wir vor Ort zusammenarbeiten können mit unserer Partnerorganisation, dem dortigen Roten Kreuz oder Roten Halbmond, helfen wir.
swissinfo: Die Schweizer Regierung hat den USA angeboten, möglicherweise eine kleine Anzahl von Guantanamo-Gefangenen aufzunehmen. Das SRK hat dazu bereits seine Hilfe angeboten.
R.R.: Das SRK führt in der Schweiz seit über zehn Jahren ein Ambulatorium für Folteropfer. Wir wären bereit, unsere Dienste anzubieten, wenn sich die Schweiz dazu entschliesst, einen solchen Häftling bei uns aufzunehmen.
swissinfo: In Sri Lanka herrscht Bürgerkrieg, das Land steht vor einer humanitären Katastrophe. Was macht das SRK in diesem Konflikt?
R.R.: Wir sind nach dem Tsunami nach Sri Lanka gekommen und haben dort Wiederaufbauarbeit geleistet. Das ist heute noch unser Fokus. Wir arbeiten auch mit dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz IKRK zusammen, das vor allem wegen der Konfliktsituation dort ist.
swissinfo: Vor kurzem gab es wegen der internationalen Kritik am Vorgehen der Regierungstruppen gegen die tamilische Zivilbevölkerung diplomatischen Wirbel, auch mit der Schweiz. Hat dies Folgen auf die Arbeit des SRK in Sri Lanka?
R.R.: Nein. Die Menschen und die Regierung sehen, was wir an Aufbauarbeit leisten. Aber es ist schon so: Wenn man den Bedürftigen hilft, nach unserem Grundsatz der Neutralität und Unparteilichkeit, hat eine Konfliktpartei oft den Eindruck, man helfe vor allem der anderen Seite.
swissinfo: Sie haben auch einen Suchdienst für vermisste Familienangehörige in Sri Lanka für Tamilen in der Schweiz. Wie funktioniert das?
R.R.: Wir helfen Leuten aus Sri Lanka, die in der Schweiz leben, ihre verschollenen Angehörigen wieder aufzufinden. Dies aufgrund unserer Präsenz und Zusammenarbeit mit dem Roten Kreuz vor Ort.
swissinfo: Ist das SRK am Wiederaufbau in Gaza beteiligt?
R.R.: Wir haben dem Palästinensischen Halbmond seit jeher medizinische Hilfsgüter geschickt. Jetzt, nach dem Krieg, unterstützen wir unseren Partner weiterhin und auch das IKRK mit medizinischer Hilfe. Aber wir sind nicht selber vor Ort.
swissinfo: Was ging Ihnen als SRK-Präsident durch den Kopf während den israelischen Bombardierungen, die auch nicht Halt machten vor Hilfskonvois internationaler Organisationen, Schulen und Spitälern?
R.R.: Zuerst mal die grosse Betroffenheit über das Leiden vieler unschuldiger Menschen. Was die Palästinenser in Gaza durchmachen, können wir uns hier gar nicht vorstellen.
Dann die Tatsache, dass die Rotkreuz-Idee heute noch missachtet wird – auch von so genannt zivilisierten Staaten. Der Zugang zu den Kriegsopfern wurde nicht gewährleistet. Die prekäre Situation des humanitären Völkerrechts – das alles geht mir durch den Kopf und hinterlässt ein sehr trauriges Gefühl.
swissinfo: Zur Tätigkeit des SRK in der Schweiz: Sie haben unter anderem auch Experten zur Konfliktlösung an den Schulen. Wie geht das?
R.R.: In den SRK-Kantonalverbänden gibt es das Programm «Chili». Wir nennen es so, weil es um Konflikte, um etwas «Scharfes» geht. Dieses Programm möchte jungen Menschen die friedliche Konfliktlösung beibringen.
«Chili» wird heute von den Schulen fleissig benutzt und schliesst nicht nur Schüler, sondern auch Lehrer mit ein.
swissinfo: Sie arbeiten vor allem mit Freiwilligen. Diese Leute haben ein grosses Potenzial und sind erst noch kostengünstig – ein Vorteil. Gibt es auch Nachteile bei der Arbeit mit Freiwilligen?
R.R.: Die Rotkreuz-Idee ist ganz zentral verbunden mit der Freiwilligen-Arbeit. Das war schon beim Gründer Henry Dunant so, auf dem Schlachtfeld von Solferino, wo er mit Freiwilligen zusammen die Verwundeten gepflegt hat.
Wir könnten, weltweit gesehen, unsere Aufgabe ohne Freiwillige gar nicht erfüllen. Der grosse Vorteil ist, dass das motivierte Menschen sind, die nicht primär ans Geld denken.
Unsere Herausforderung ist es, die Freiwilligen-Arbeit attraktiv zu gestalten. Es geht heute bei der Freiwilligen-Arbeit nicht mehr nur darum, dass jemand für einen anderen etwas Gutes tut. Er macht es auch, weil er Befriedigung und Bestätigung haben will. Das braucht auch Betreuung von unserer Seite. Wir müssen nicht nur Freiwillige weiterbilden, wir müssen auch jene schulen, die Freiwillige betreuen.
swissinfo: Wenn man die zahlreichen SRK-Tätigkeiten in der Schweiz und im Ausland anschaut, kommt die Frage auf, ob da nicht Kräfte verzettelt werden.
R.R.: Ja, das stimmt teilweise schon. Aber das SRK mit diesen vielen Organisationen ist historisch gewachsen. Es ist eigentlich eine urschweizerische Entwicklung, indem von unten nach oben Verbände gegründet worden sind.
Wir leben ein schweizerisches Phänomen: die Verbindung von Vielfalt und Einheit, von Autonomie und Lenkung. Unsere Organisationen sind vor Ort, bei den Leuten. Das SRK ist in der Gesellschaft verankert.
swissinfo-Interview: Jean-Michel Berthoud
Der grösste Teil der SRK-Tätigkeit findet in der Schweiz statt.
Es gibt zwei Säulen: Gesundheit und Integration sowie Rettung und Nothilfe.
Die erste Säule wird vor allem durch die 24 SRK-Kantonalverbände erfüllt, die vor Ort sind und für jüngere und ältere Menschen Integrations- und Betreuungs-Programme haben.
Bei der Rettung und Nothilfe sind Organisationen vom Samariterbund bis hin zur Rettungsflugwacht Rega im Einsatz. Sie alle retten Menschen auf dem Land, im Wasser oder in der Luft. Daneben führt das SRK schweizweit noch einen Blutspendedienst.
Geboren 1942.
Studium an der Universität Basel, 1971 Dr. iur.; Habilitation 1979.
Rechtsberater des Regierungsrates Baselland 1972-1977.
Präsident des Verwaltungsgerichts Baselland 1978-1981.
Ordinarius für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Basel 1982-2006.
Dekan der Juristischen Fakultät der Universität Basel 1985/86, 1993/94 und 2000/01.
Ständerat des Kantons Basel-Landschaft 1987-1999, Ständeratspräsident 1999.
Seit 1. Oktober 2001 Präsident des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK) und Vizepräsident der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften.
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