«Seeufer dem Volk!» oder Rolf Käppeli, der Winkelried von Uetikon
Seeufer zählen in der Schweiz zu den besten und teuersten Wohnlagen. Zahlreiche Superreiche haben sich ihren Traum von der Villa auf einem Privatgrundstück am See verwirklicht. Dabei ist der Zugang an See- und Flussufer per Gesetz öffentlich. Das sorgt da und dort für einen "Klassenkampf" ums Seeufer. In Uetikon am Zürichsee verstellt aber eine alte Fabrik den Seezugang. 20 Jahre kämpfte Rolf Käppeli dafür, dass dieses Grundstück dem Volk gehört – mit Erfolg.
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Die Fabrik, das ist in diesem Fall die Chemie und Papier Holding CPH. Ein Betrieb auf einem grossen Gelände direkt am Zürichsee, wo Chemikalien zum Düngen oder zur Abwasserbehandlung gelagert werden.
Und das Dorf, das ist Uetikon am See. Eine kleine Gemeinde am Ufer des Zürichsees.
Volk gegen Geld
Rolf Käppeli erkennt, dass die Fabrik auf aufgeschüttetem Land steht. Land also, das dem See weggenommen wurde, Und dieser wiederum ist ja eigentlich öffentlicher Grund. Also, so die Überzeugung des ehemaligen Lehrers, müsste dies auch für das Fabrikgelände gelten (siehe Box unten).
Anders sieht das damals wie heute der Uetiker Gemeinderat. Denn die Zürcher Kantonsregierung liess tatsächlich früher zu, dass aufgeschüttetes Uferland im Grundbuchamt eintragen werden durfte – und Nutzer so zum Eigentümer werden konnte. Für Urs Mettler, den heutigen Gemeindepräsidenten, steht daher fest: «Dieses Land gehört der Fabrik.»
Auftakt im Lokalblatt
Rolf Käppeli veröffentlicht in der Lokalzeitung vier Artikel. «Und im Dorf begann es zu vibrieren», erinnert er sich heute. Als Abschluss der Serie organisiert er eine Podiumsdiskussion mit Vertretern der Gemeinde, der Fabrik und natürlich den Einwohnerinnen und Einwohnern. «Ein versöhnlicher Abschluss», sagt er.
Und aber auch ein Anlass, an dem die Chefs der «Chemischen» klar signalisieren, dass sie am Standort Uetikon festhalten wollen. Dies, obwohl die Zukunft für den CPH-Produktionsstandort Schweiz bereits damals düster aussieht.
Symbiose Fabrik/Dorf
Sechs Jahre später hat CPH bereits ein Teil der Produktion aus Uetikon ins Ausland ausgelagert. Das gibt Platz auf dem Areal. Die Fabrikbesitzer planen ein Wohnbauprojekt: 200 Wohnungen mit Seesicht, die man auf dieser Seite des Zürichseeufers mit höchsten Bodenpreisen für Millionen Schweizer Franken verkaufen oder für viele tausend Franken pro Monat vermieten kann – willkommen an der so genannten Zürcher Goldküste.
«Da hats mich gestochen», erzählt Rolf Käppeli. «Man kann doch nicht Profit machen mit Land, für das man nie etwas bezahlt hat.»
Der Uetiker Gemeinderat seinerseits steht geschlossen hinter dem Überbauungsprojekt. Gemeindepräsident Urs Mettler sagt: «Damals war das die einzige Möglichkeit, zumindest einen teilweisen Zugang zum See zu bekommen.
Rauswurf, der gelegen kam
Und wieder beginnt Rolf Käppeli zu recherchieren. Nach ein paar Artikeln will die Dorfzeitung ihren Chronisten jedoch loswerden – zu kritisch sind seine Fragen zum Luxuswohnungs-Projekt am See.
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Volk will an seinen See
Das öffnet dem Unermüdlichen ironischerweise die Türe zu einem noch grösseren Publikum: Rolf Käppeli wird Mitarbeiter beim Tages-Anzeiger, der grossen Tageszeitung aus Zürich. Nun berichtet er landesweit über die Vorgänge in seinem Dorf. «Ohne Partei zu ergreifen», wie er beteuert.
Seine damaligen Artikel zeigen, dass Rolf Käppeli als Autor zwar neutral blieb; den Kampf für ein öffentliches Seeufer aber führte er unerschrocken weiter – mit Interviews, Einordnungen und Faktenchecks auch in dieser Zeitung weiter.
Grösste Versammlung
Für ihr Wohnbauprojekt brauchen die Fabrikeigner aber den Segen der Gemeindeversammlung, also der lokalen Bürger. Ohne diese geht in der Lokaldemokratie Schweiz nichts.
Die Versammlung, die im März 2007 über die Bühne geht, wird als bisher grösste in die Geschichte der Gemeinde eingehen. 805 Personen erscheinen, fünf Mal mehr als sonst.
Seeufer gehören allen
Laut dem Schweizerischen Zivilgesetz (ZGB) gehören in der Schweiz alle Seen und Flüsse der Öffentlichkeit. Folglich müssen auch alle Ufer öffentlich zugänglich sein.
In der Realität sieht das aber oft anders aus, da Reiche Grundstücke an Ufer kauf(t)en und diese so Privateigentum sind.
Die grösste Organisation, die sich für mehr öffentliche Seeufer einsetzt, ist der Genfer Verein Rives Publiques. Heute unterstützt er lokale Gruppen landesweit. Auch in Uetikon trat der Verein auf.
Die Dorfbewohner schicken am Ende den Gestaltungsplan mit satten 56% Nein bachab. Verschnupft vermeldet die Fabrik danach, dass man das Gelände nun weiter industriell nutzen will. Doch dieser Zug ist abgefahren.
Rolf Käppeli, der heute nicht mehr als Journalist tätig ist, gründet gemeinsam mit anderen Gegnern den Verein «Uetikon an den See». Man organisiert Informationsabende, sammelt Unterschriften für Petitionen und reicht bei den Uetiker Gemeindebehörden eine Initiativen zur Seeufergestaltung ein.
Die Gemeinde habe wenig Interesse daran gezeigt, fährt Rolf Käppeli fort. «Die waren immer noch wütend auf uns, weil wir das Wohnbauprojekt verhindert hatten.» Dadurch sah sich die Gemeinde zahlungskräftige Neuzuzüger entgehen, die einen schönen Batzen in die Steuerkasse gespült hätten.
Gemeindepräsident Urs Mettler entgegnet: «Rolf Käppeli forderte den Gemeinderat in der Tat mehrfach auf, selber auf diesem Gebiet zu planen. Wir haben das abgelehnt, weil es sich wie erwähnt um privates Land handelt. Das käme einer Enteignung gleich.»
Kanton bringt die Wende
Die Wende bringt schliesslich vor einem Jahr eine Ausschreibung des Kantons. Er plant in der Gegend ein neues Gymnasium. Gemeindepräsident Urs Mettler sagt, dass er rasch das Gespräch mit den Fabrikbetreibern gesucht habe.
Diese willigten ein, sich gemeinsam mit der Gemeinde als neuen Mittelschul- Standort zu bewerben. Es folgen Verhandlungen mit dem Kanton. Schliesslich einigt man sich auf einen Kaufpreis von 52 Millionen Franken.
Heisse Kartoffel weitergereicht
Bestrebungen zu einem freien Zugang zu See- und Flussufern werden auch immer wieder auf der nationalen politischen Bühne unternommen. 2009 forderte eine Initiative im Schweizerischen Parlament, dass an jedem See ein Fussweg direkt am Ufer gewährleistet ist. Die zuständige Kommission reichte die Aufgabe aber weiter: «Es ist sinnvoll, dass die ortskundigen Kantons- und Gemeindebehörden für den Vollzug des Uferplanungsgrundsatzes zuständig sind», heisst es in der Antwort.
Auch auf kantonaler Ebene kommt es immer wieder zu Vorstössen für öffentliche Uferwege. Im Kanton Zürich wurde der Gegenvorschlag der Initiative «Zürisee für alle» 2016 angenommen. Jährlich werden seither sechs Millionen Franken für den Bau von Uferwegen budgetiert. Am Bodensee setzt sich das «Komitee für einen Seeuferweg» für mehr öffentliche Ufer ein.
Dazu erwirbt die Gemeinde die Hälfte des Grundstücks. Der Preis ist deshalb «spottbillig», weil die öffentliche Hand auch die Altlasten im Boden übernimmt resp. dessen Sanierung.
Rolf Käppeli sieht sich und seinen Verein bei dieser Entwicklung in einer Vorreiterrolle. «Wir merkten, dass wir als Verein kein Brot gegen die Gemeinde haben.» Also habe man die Ideen zur Ufergestaltung über verschiedene neue Kanäle beim Kanton eingebracht. Nun habe man diesen für die Situation in Uetikon sensibilisieren wollen.
«Wir sind dort auf offenere Ohren gestossen als beim Gemeinderat», sagt Käppeli. Urs Mettler dagegen hält fest: «Sie hatten keinen Anteil am Standortentscheid des Kantons. Damit haben sie höchstens die Verhandlungen gestört.»
Auch der Kanton verneint den Einfluss der Gegnerseite. Markus Pfanner von der Kommunikationsabteilung der Zürcher Baudirektion sagt: «Die Gegner hatten mit dem Standortentscheid des Gymnasiums nichts zu tun.»
Lebensqualität für alle
Ein Park, ein Schwimmbad, Wohnungen, ein lauschiges Gartenrestaurant – das alles kann neben dem Gymnasium nun am See entstehen. So stellt sich das jedenfalls der Verein «Uetikon an den See» vor. Wie auch viele andere Einwohnerinnen und Einwohner der Gemeinde (siehe Video).
Im November 2017 hat die Gruppe um Rolf Käppeli und den Co-Präsidenten Andreas Natsch ihre Vorschläge in einem Mitwirkungsverfahren einbringen können, wie auch alle anderen interessierten Bürger. Geleitet wird es vom Kanton und es trägt den versöhnlichen Namen «Chance Uetikon».
Im Ort wird also eine Uferzone für alle entstehen. Trotz allem dafür und dawider: Ohne den langen Atem von Rolf Käppeli und seinen Mitstreitern wäre dies nicht möglich gewesen.
Es ist aber auch ein Einsatz, der nicht spurlos an Rolf Käppeli vorbeiging. «Demokratie zu leben kann äusserst zermürbend sein. Es werden einem viele Steine in den Weg gelegt und es braucht Geduld, Hartnäckigkeit, Energie und Kampf.»
Ein Kampf, der nun auch dazu führt, dass dem Namenszusatz der Gemeinde bald Rechnung getragen wird: Die Gemeinde wird tatsächlich wieder zu Uetikon am See – mit Seezugang für alle.
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