Schweiz – EU: Die bilateralen Verträge erklärt
Die Schweiz hat ein neues Vertragspaket mit der EU verhandelt. Es markiert ein neues Kapitel in der langen Geschichte einer komplizierten Beziehung. Ein Blick auf den aktuellen Stand der bilateralen Verträge.
Die Schweiz hat ihre Beziehungen zur EU in rund 20 bilateralen Verträgen und über 100 weiteren AbkommenExterner Link geregelt. Ein erstes Vertragspaket wurde 1994 mit der noch jungen EU erarbeitet. Es enthielt Abkommen über die Personenfreizügigkeit sowie Regeln zu Handelshemmnissen, Landwirtschaft, Verkehr und Forschung.
Die Geschichte der Bilateralen
Die EU gewährte der Schweiz im Hinblick auf einen möglichen späteren Beitritt damals noch einzigartige Zugeständnisse. Diese Abkommen wurden als Bilaterale Verträge bekannt.
Zehn Jahre später, 2004, folgte mit den «Bilateralen II» ein weiteres Vertragspaket, das mit den Abkommen von Schengen und Dublin hauptsächlich den Umgang mit Migration und Asyl harmonisierte.
Dann schien die Sache vorerst geregelt. Im Alltag und über die Jahre tauchten jedoch neue Bedürfnisse auf – etwa nach einem Abkommen über Strom.
Andrerseits zeigte sich zunehmend, wie statisch die Verträge waren. Denn die EU-Mitgliedsländer harmonisierten ihre Gesetze immer schneller, und die EU entwickelte ihren Rechtsbestand entsprechend weiter.
Es gibt gemischte Ausschüsse, die im Alltag über das Funktionieren der bilateralen Verträge wachen. Bei ihnen wuchs der Aufwand, um die einst geschlossenen Abkommen im neuen rechtlichen Umfeld zu interpretieren. Die beiden Rechtsräume drohten auseinanderzudriften.
Nach 2008 wollte die EU das Verhältnis zur Schweiz deshalb in ein Rahmenabkommen giessen. Institutionelle Fragen sollten einheitlich geregelt, Rechtsentwicklungen automatisch angepasst werden. Die Verhandlungen dazu starteten 2014. Sie zogen sich in die Länge.
Die Schweiz prallte mit ihren Partikularinteressen ab. Sonderregelungen kamen für Brüssel nicht mehr infrage. Denn ab 2016 verhandelte die EU auch mit Grossbritannien über den Brexit. Zugeständnisse an die Schweiz hätten in dieser Phase den ohnehin schwierigen Prozess mit den Briten erschwert – und auch in den EU-Mitgliedsländern Begehrlichkeiten geweckt.
Ernüchtert beendete der Bundesrat 2021 die Verhandlungen einseitig. Die EU reagierte verstimmt und schloss die Schweiz aus ihrem Forschungsprogramm Horizon aus.
Was wollte die Schweiz von der EU?
Schon 2022 sondierte die Schweiz wieder nach Möglichkeiten, um die fünf bestehenden Binnenmarktabkommen zu aktualisieren: Personenfreizügigkeit, Luftverkehr, Landverkehr, technische Handelshemmnisse und Landwirtschaft.
Zwei weitere Abkommen in den Bereichen Strom und Lebensmittelsicherheit strebte sie ebenfalls an. Zudem wollte sie den Ausschluss aus Horizon beseitigen.
Klar war dem Bundesrat dabei stets: Was immer seine Verhandlungsdelegation aus Brüssel zurückbringen würde, es müsste vor dem Volk bestehen können. Referenden drohen in dieser Frage stets von Links und Rechts. Und die staatspolitische Souveränität der Schweiz gilt als Leitidee in der Europafrage, spätestens seit dem Volks-Nein zum Europäischen Wirtschaftsraum EWR im Jahr1992.
Was sind die roten Linien der Schweiz?
Um im Inland eine ausreichende Akzeptanz zu erhalten, muss ein Abkommen mit der EU aus Schweizer Sicht möglichst viele, vielleicht gar alle der folgenden Kriterien erfüllen: Eine verbindliche Regel, die das hohe Schweizer Lohnniveau vor Dumping schützt.
Eine Garantie auf Mitsprache des Volks oder mindestens ein Vetorecht bei Rechtsübernahmen. Keine «fremden Richter», also kein EU-Gericht als letzte Instanz. Und schliesslich die Möglichkeit, die Zuwanderung in die Schweiz eigenständig steuern oder zumindest begrenzen zu können.
Mit diesen Zielen reisten die Schweizer Delegationen über 200 Male nach Brüssel.
Was hat die Schweiz bei den Bilateralen nun erreicht?
Nach dem gescheiterten ersten Anlauf von 2014 und den folgenden Jahren des Stillstands schien eine Lösung zeitweise kaum mehr möglich. Darum ist bereits das Vorliegen eines Resultats ein Erfolg.
Die Schweiz hat erreicht, dass die institutionellen Fragen nun in den einzelnen Abkommen integriert sind. Sie sind nicht global gültig, wie es der Rahmenvertrag vorgesehen hätte. Eine automatische Rechtsübernahme ist damit teilweise vom Tisch.
EU-Recht soll von der Schweiz nur «dynamisch» adaptiert werden. Sie darf auch ablehnen. Die Schweiz bewahrt damit wie beabsichtigt Unabhängigkeit. Sie bindet sich politisch nicht näher an die EU als wirtschaftlich gewünscht und notwendig.
Medien und Politiker:innen attestieren der Schweizer Delegation, dass sie herausgeholt hat, was in Brüssel möglich war. Das Vertragswerk wird daher auch als «maximal massgeschneidert» (NZZ) bezeichnet. Dazu trägt auch bei, dass die Schweiz bei der Personenfreizügigkeit die Zuwanderung weitgehend auf arbeitstätige Einwandernde beschränken konnte.
Letztlich kann die Schweiz auch ihre Tradition des bilateralen Wegs fortsetzen. Medien und die Politik reden deshalb von den «Bilateralen III».
Welche Fragen sind bei den Bilateralen geklärt?
Das Verhandlungsergebnis hat der Bundesrat erst summarisch kommuniziert, die Vertragstexte sind noch nicht veröffentlicht. Die Schweiz hat von der EU einige Zugeständnisse erhalten: Sie darf – auf Bewährung – wieder am Forschungsprogramm Horizon teilnehmen.
Sie hat sich auch eine Möglichkeit gesichert, dass sie im Bedarfsfall, bei «schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen», eine Schutzklausel zur Begrenzung der Zuwanderung aktivieren kann. Wie griffig diese ist, bleibt jedoch fraglich.
Die Schweiz wird beweisen müssen, dass die Zuwanderung wirtschaftliche Probleme schafft. Doch bisher war die Zuwanderung stets dann hoch, wenn ihre Wirtschaft florierte.
Bisher bestehen die bilateralen Verträge aus fünf Abkommen, nun liegen also drei neue vor: Zum Strom, zur Gesundheit und zur Lebensmittelsicherheit. Geregelt ist auch der Eintrittspreis in den Markt der EU, er beträgt ab 2030 jährlich 350 Millionen Franken. Bis dahin bezahlt die Schweiz jährlich 130 Millionen Franken.
Welche Fragen bleiben ungelöst?
Der grösste Knackpunkt bleibt der Schutz der hohen Schweizer Löhne. Die Gewerkschaften in der Schweiz machen diesen zur Bedingung für ihr Ja zum Gesamtpaket. Zwar konnte die Schweiz ihr bisheriges Lohnschutz-Niveau gegen allfällige künftige Verschlechterungen in der EU absichern.
Sie musste sich jedoch dem Spesenreglement der EU beugen. Spesen für entsendete Arbeitnehmende richten sich damit nach den Regeln ihrer Herkunftsländer. Darin sehen die linken Arbeitnehmerverbände ein Einfallstor für Lohn- und Preisdumping.
Da die EU in dieser kniffligen Frage hart blieb, muss die Schweiz das Problem nun intern lösen. Die Sozialpartner sollen Wege finden, um allfällige Verschlechterungen zu kompensieren, so lautet der Auftrag des Bundesrates an die Vertreter der Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen.
Zwischen ihnen sind die Fronten jedoch verhärtet. Die Gewerkschaften sind sich bewusst, dass ihr Ja zu den Verträgen entscheidend wird. Im Powerplay um vorteilhaftere Gesamtarbeitsverträge können sie damit operieren.
Offen bleibt vorerst auch, was im Vertragswerk noch an Kleingedrucktem auftaucht, etwa die Frage, wie dauerhaft die Schweizer Teilnahme an den EU-Programmen geregelt ist. Interessieren werden auch die möglichen Sanktionen für den Fall, dass die Schweiz der EU bei Rechtsübernahmen nicht folgt.
Geblieben sind zudem die sogenannten «fremden Richter». Zwar urteilt über Streitigkeiten grundsätzlich ein gemeinsames Schiedsgericht. In letzter Instanz wird dieses jedoch den Europäischen Gerichtshof anrufen, wenn es um EU-Recht geht.
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Wie reagiert die Schweizer Politik auf die Bilateralen III?
Vor allem darum ist die rechtskonservative SVP grundsätzlich gegen die neuen Abkommen. Wenn auch die Linke, getrieben von den Gewerkschaften, opponiert, dann haben die Verträge im Volk kaum Chancen auf Akzeptanz.
Zum Jahresbeginn 2025 geben sich die Sozialdemokraten abwartend. Auch die anderen grossen Parteien sind nur vorsichtig optimistisch. Einigkeit besteht bei allen darin, dass der Ansatz der bilateralen Verträge erhalten oder verfolgt werden soll, und dass die Schweizer Löhne geschützt werden müssen.
Wie geht es weiter?
Die nächsten eidgenössischen Wahlen sind für den 24. Oktober 2027 vorgesehen. Vorher erwarten Beobachter:innen keine Volksabstimmung über das Vertragswerk.
Die Abkommen mit der EU werden im Frühling gegenseitig quittiert. Voraussichtlich 2026 wird sich das Parlament damit beschäftigen. Der Bundesrat will die drei neuen Abkommen separat vorlegen. Damit kann es mehrere Referenden geben und Volksentscheide geben.
Editiert von Samuel Jaberg, mit Inputs von Matthias Strasser, SRF
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