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Verhältnis zur EU: Die Schweiz bleibt tief gespalten 

Bundespraesidentin Viola Amherd links, und Ursula von der Leyen, EU-Kommissionspraesidentin, diskutieren nach einem gemeinsamen Auftritt vor den Medien, am Montag, 18. Maerz 2024 am am Sitz der EU-Kommission in Bruessel, Belgien. Der Besuch der Bundespraesidentin markiert den offiziellen Beginn der Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU. (KEYSTONE/Alessandro della Valle)
Bundespräsidentin Viola Amherd und Ursula von der Leyen, EU-Kommissionspräsidentin im März 2024 in Brüssel. Keystone / Alessandro Della Valle

Die Schweizer Bevölkerung spürt kaum Begeisterung für die EU. Aber sie erachtet die bilateralen Verträge mit Brüssel als wichtig. 

Eine SRG-Umfrage zum Thema zeigt: Die Europa-Frage verharrt in der Schweiz auf Messers Schneide. Und sie bleibt höchst umstritten. 

Die Antworten von fast 20’000 Schweizerinnen und Schweizer über die EU und die bilateralen Verträge der Schweiz ergeben ein äusserst zerrissenes Meinungsbild. Die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung anerkennt zwar die Bedeutung der EU für die Schweizer Wirtschaft. Das ist eine rationale, wirtschaftliche Sicht, die sich über das ganze politische Spektrum verteilt. 

Das grosse «Aber» lautet: Emotional und persönlich dominiert im Schweizer:innen-Herz ein Gefühl von Distanz und Gleichgültigkeit. 

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Geht es um mich oder geht es um die Schweizer Wirtschaft als Ganzes? Das sei darum das Spannungsfeld, in dem die sich abzeichnende Diskussion stattfinden wird, ziehen die Urheber der Umfrage Fazit. 

Kommt dazu: «Die EU-Frage ist stark polarisiert», sagt Martina Mousson vom Forschungsinstitut gfs.bern, das die Umfrage durchgeführt hat. «Der emotional aufgeladene Kern der Kritik ist die Sorge um die Souveränität der Schweiz», so Mousson. Dies verweise auf die tiefgreifende Spaltung in dieser Frage. 

Das zeigt diese Grafik:

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Ziel der von der SRG in Auftrag gegebenen Umfrage war es, die Haltung der Stimmberechtigten zu erfassen. Die Verhandlungen zwischen Bern und Brüssel über ein Aufdatieren des bilateralen Vertragswerks stehen kurz vor einem möglichen Abschluss. Nun wollte man ein Stimmungsbild, denn eine neue EU-Debatte scheint unausweichlich. 

Das Thema wurde in der Schweizer Öffentlichkeit zuletzt wenig debattiert, auch wenn das Interesse daran gross ist, wie die Umfrage ebenso zeigte: Fast 20’000 Befragte machten mit. 

Die Abwesenheit des Themas könnte die Ruhe vor dem Sturm gewesen sein. Spätestens wenn ein Verhandlungsresultat zu beurteilen ist, wird die Diskussion wieder aufflammen. 

Kritischer Blick auf die EU

Wie nimmt man in der Schweiz die EU wahr? Sie löse gemischte Gefühle aus, festzustellen sei ein leichter Überhang an negativer Wahrnehmung, sagt Mousson. In der italienischsprachigen Schweiz wird die EU am kritischsten gesehen. Im Tessin sind Preise und Löhne durch die Personenfreizügigkeit stark unter Druck geraten. 

Trotz weitreichender Kritik an der Institution EU wird die Bedeutung für die Schweizer Wirtschaft breit und eindeutig anerkannt. «Das ist die Ambivalenz, in der die Meinungen gemacht werden», fasst Mousson zusammen. 

Wer die EU positiv sieht, sieht sie als Friedens- und Wohlstandsprojekt. Die positive Sicht ist auch geprägt von der Vorstellung einer europäischen Idee, einer Wertegemeinschaft mit gemeinsamen Zielen und Interessen. 

Mehrheit sieht ein Bürokratie-Monster

Diese zustimmende Sicht werde von Leuten getragen, die sich als Europäer:innen fühlen und die Beziehungen zu den Nachbarländern schätzen. Aber:  «Menschen mit positivem Bild der EU sind in der Minderheit», sagt Martina Mousson. 

Die Mehrheit sieht die EU als bürokratisches Monster, welche der Schweiz einen Verlust an Mitsprachemöglichkeiten bringt. Viel Zustimmung erhalten in diesem Lager Aussagen wie folgende: «Die EU ist ein bürokratischer Moloch. Sie ist nicht in der Lage, auf die grossen Herausforderungen der Welt richtig zu reagieren. Sie ist undemokratisch.» 

«Die negative Stimmung ist komplex und facettenreich», sagt Mousson, «es dominiert darin der starke Wunsch nach Selbstbestimmung und Freiheit.» 

Die Bilateralen überzeugen nach wie vor 

Ebenso ambivalent ist die Sicht der Schweizer Stimmbevölkerung auf die bilateralen Verträge, mit der die Schweiz ihr Verhältnis zur EU regelt. Zwar denken die meisten, dass es ohne diese schlechter um das Land stünde und dass sie der Schweizer Wirtschaft nützen. 

Eine Mehrheit teilt aber auch den Eindruck, dass die Personenfreizügigkeit zu einer starken Zuwanderung geführt hat, und dass diese die Sozialwerke in der Schweiz zusätzlich belastet. Mehrheitlich auf Zustimmung stossen auch die folgenden Aussagen: «Die einheimischen Löhne sind unter Druck geraten.» Und: «Die Bilateralen treiben die Miet- und Immobilienpreise in die Höhe.» 

Gesamthaft betrachtet überwiegt dennoch eine positive Beurteilung der Bilateralen. 

Das zeigt diese Grafik:

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Nach den laufenden Verhandlungen befragt, erachten diese fast drei Viertel als wichtig und mehr als die Hälfte auch als dringend. SVP-Wähler:innen sehen sie als unwichtig. 

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Lukas Golder von gfs.bern sieht eine künftige Diskussion entlang zwei Polen: Einerseits gebe es eine nüchterne Betrachtungsweise, die besage, dass neue bilaterale Verträge gut fürs Land seien und der Wirtschaft helfen. Auf der anderen Seite stünden die Emotionen von Ablehnung und Distanz. «Emotionen sind heute eher relevant. Und diese Emotionen stehen nicht unbedingt für eine Weiterentwicklung des bilateralen Verhältnisses», sagt Golder. 

«Es fehlt die überzeugende Vision» 

Kommt die Frage dereinst vors Volk, wird sie laut Martina Mousson mit grosser Wahrscheinlichkeit zu einem Lagerdenken führen – also dazu, «dass viele für Argumente nicht zugänglich sind». Um diese Lager zu überwinden, wäre ein gemeinsames Zukunftsbild der Schweiz vonnöten. Aber dieses fehle. «Es gibt keine stark überzeugende Vision in dieser Frage», sagt Mousson. 

Editiert von Giannis Mavris

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