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«Schweiz hatte nie Angst vor geeintem Deutschland»

Keystone

Vor 20 Jahren fiel die Berliner Mauer, ein Ereignis, das gemäss Christian Blickenstorfer, dem Schweizer Botschafter in Berlin, in der Schweiz keinen Alarm auslöste, da Deutschland innerhalb der EU gut verankert war.

Laut Christian Blickenstorfer sind die beiden Nachbarländer stark von einander abhängig, trotz ihrer unterschiedlichen Grösse. Deutschland ist der wichtigste Handelspartner der Schweiz. So geht ein Fünftel aller Exporte nach Deutschland, und ein Drittel der Importe kommt aus Deutschland.

Die bilateralen Beziehungen waren in den letzten Monaten getrübt, nachdem der deutsche Finanzminister Peer Steinbrück die Schweiz wegen ihrer Steuerpolitik und ihres Bankgeheimnisses massiv angegriffen hatte.

swissinfo.ch: Wo liegen die Stärken in den Beziehungen zwischen Deutschland und der Schweiz?

Christian Blickenstorfer: Nehmen wir die vergangenen sechs Jahre: Wir sind uns sehr ähnlich, was das demokratische System betrifft, und im wirtschaftlichen Bereich sind wir voneinander stark abhängig.

Deutschland unterstützte die Schweiz in ihrem Umgang mit der stetig wachsenden EU enorm. Das ist etwas, was die Schweizer Bevölkerung vermutlich kaum wahrgenommen hat.

Schweizer Politikern und Beamten, die damit zu tun hatten, war es jedoch immer bewusst, dass wir es ohne deutsche Hilfe in den bilateralen Beziehungen zur Europäischen Union nie soweit gebracht hätten.

swissinfo.ch: Wenn Sie von den Beziehungen zwischen der Schweiz und Deutschland sprechen, meinen Sie da das ganze Land oder nur die Deutschschweiz?

C.B.: Ich stamme aus der deutschsprachigen Schweiz. Daher ist es für mich und meine Kollegen naheliegender als für unsere französischsprachigen Landsleute, dass diese Beziehung so eng sein muss.

Deren Beziehung zu Frankreich, würde ich sagen, ist weniger eng als jene zwischen der Deutschschweiz und Deutschland. Ob mein Gefühl stimmt, weiss ich nicht. Vielleicht liege ich falsch.

swissinfo.ch: Wieso ist das so?

C.B.: Weil wirtschaftlich gesehen Deutschland für die Schweiz viel wichtiger ist als Frankreich. Dazu kommt, dass Frankreich mit seinem Jahrhunderte alten zentralistischen System für die Schweiz als Partner weniger naheliegend ist als Deutschland, das seit 1949 klar föderalistisch strukturiert ist.

swissinfo.ch: Dieses Jahr feiert Deutschland den 20. Jahrestag seiner Wiedervereinigung. Wie reagierte die Schweiz 1989, als die beiden Teile wieder zusammenwuchsen?

C.B.: Im Gegensatz zu Grossbritannien, wo insbesondere die damalige Premierministerin Margaret Thatcher Bedenken zeigte, hatte die Schweiz nie Angst vor einem vereinigten Deutschland.

Gleichzeitig realisierte die Schweiz aber auch, dass sich Deutschland 1989 ganz klar zu einem sehr starken Mitglied innerhalb der Europäischen Union entwickelt hatte. Da das Land voll in Europa integriert war, bestand jedoch kein Risiko, dass sich die Geschichte Deutschlands des 20. Jahrhunderts wiederholen würde.

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swissinfo.ch: Hatte die Schweiz damals nicht Angst, dass qualifizierte Arbeitskräfte abwandern könnten, da die neuen Bundesländer neue Investitionsmöglichkeiten und Arbeitsplätze boten?

C.B.: Interessanterweise nicht, denn es läuft ja anders herum. Unsere Lebensqualität und unser Lohnniveau sind höher, so dass wir eher Arbeitkräfte anziehen, seit die Schweiz dem freien Personenverkehr zugestimmt hat.

Es kommen also weit mehr Personen in die Schweiz als wegziehen. Die Zahl der Schweizer in Deutschland ist in den letzten fünf bis sieben Jahren aber auch gestiegen.

Für die Schweiz ist der Brain Drain ein globales Thema. In den 1990er-Jahren gab es Bedenken, dass die klugesten Köpfe in die USA abwandern würden. Deshalb errichteten wir in Boston ein Wissenschafts-Konsulat, das rückkehrwillige Schweizer unterstützt. Viele machten von dieser Gelegenheit Gebrauch. Auch in Deutschland haben wir ein ähnliches Modell eingerichtet.

Wir werden sehen, wie sich die Lage während der gegenwärtigen Rezession verändert. Im Grossen und Ganzen sind wir aber zufrieden mit dem anhaltenden Hin und Her zwischen den beiden Ländern.

swissinfo.ch: Wie steht es mit der Angst vor einem Zustrom Deutscher in die Schweiz? Führt dies zu Spannungen unter den Bevölkerungsgruppen?

C.B.: In gewissen Teilen der Bevölkerung kam die Angst auf, dass diese Zuwanderung die Löhne drücken könnte. Die letzten drei oder vier Jahre haben aber klar gezeigt, dass die Bedenken jener, die sich gegen den freien Personenverkehr innerhalb Europas ausgesprochen haben, unbegründet war. Denn die jetzige Rezession hat die Einwanderung in die Schweiz automatisch reduziert.

swissinfo.ch: Die Europäische Union wird immer grösser. Wo steht die Schweiz in zehn Jahren?

C.B.: Das ist schwierig vorauszusagen. Vermutlich werden wir aber noch immer nicht zur EU gehören, denn die Stimmung in der Schweizer Bevölkerung ist nicht soweit, dass die Regierung die Frage über einen EU-Beitritt dem Volk vorlegen könnte.

Dafür gibt es mindestens zwei Gründe: Für die Schweiz mit ihrer direkten Demokratie und ihrer Mitsprache auch auf kommunaler Ebene scheint Brüssel extrem weit weg zu sein. Für gewisse Schweizer ist bereits Bern sehr weit entfernt. Und der bürokratische Koloss, der in Brüssel aufgebaut wurde, ist etwas, das die Schweizer nicht wirklich mögen.

Zudem müssten wir wahrscheinlich Teile unseres direkt-demokratischen Systems ändern, anpassen oder gar aufgeben. Ich denke, die Schweizer ziehen es vor, ihre Unabhängigkeit zu behalten, weil es etwas ist, das ihnen wirklich sehr am Herzen liegt.

Andrew Littlejohn in Berlin, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Englischen: Gaby Ochsenbein)

Am 2. Mai 1989 durchtrennen die Aussenminister Österreichs und Ungarns den Grenzzaun zwischen den beiden Ländern.

Am 19. August findet in Sopron an der ungarisch-österreichischen Grenze ein «paneuropäisches Frühstück» statt. In dessen Anschluss flüchten mehrere Hundert DDR-Bürger über die Grenze nach Österreich, ohne dass die ungarischen Grenzsoldaten eingriffen.

Immer mehr DDR-Bürger besetzen die Botschaften der BRD in der Tschechoslowakei, Polen und Ungarn, wo sie die Ausreise nach Westdeutschland verlangen.

Ende September befinden sich über 4000 DDR-Bürger auf dem Gelände der BRD-Botschaft in Prag. Sie konnten mit 17 Zügen nach Westdeutschland ausreisen.

Am 3. November öffnet die Tschechoslowakei die Grenzen für DDR-Bürger.

Am 9. November fällt die Berliner Mauer.

Am 3. Oktober 1990 tritt die DDR der BRD bei, 41 Jahre nach der Teilung ist Deutschland wieder vereint.

1945 in Horgen am Zürichsee geboren.

Trat 1974 nach einem Studienabschluss (Dr. phil I) an der Universität Zürich in den Dienst des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten.

1980 wurde er nach Bangkok und 1983 nach Teheran versetzt, wo er 1985 zum Botschaftsrat befördert wurde.

1985: Ernennung zum stellvertretenden Chef der Politischen Abteilung II.

1989: Minister und erster Mitarbeiter des Missionschefs in Washington.

1993: Botschafter im Königreich Saudi-Arabien, in den Vereinigten Arabischen Emiraten, im Sultanat Oman und in der Republik Jemen, mit Sitz in Riad.

1997: Chef der Politischen Abteilung II in Bern.

2000: Botschafter und Chef der Politischen Direktion.

2001 – 2006: Botschafter der Schweiz in den USA.

Seit 2006: Botschafter in Berlin.

ChrisO, Wikimedia commons

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