Schweiz sagt Nein zu beiden Prämien-Initiativen: Wie es jetzt weitergeht
Überraschung an der Urne: Nicht nur die Kostenbremse-Initiative der Mitte-Partei fällt beim Volk deutlich durch. Auch die Prämien-Entlastungs-Initiative der SP bleibt chancenlos. Wie die SP ihren Prämiendeckel jetzt doch durchdrücken will.
Die Kostenbremse-Initiative der Mitte-Partei hat die Schweizer Bevölkerung nicht überzeugt. Sie wird mit 62,8% Nein- zu 37,2% Ja-Stimmen abgelehnt.
Überraschend klar ist der Ausgang auch bei der Prämien-Entlastungs-Initiative der Sozialdemokratischen Partei (SP), die einen Kostendeckel für die Prämienlast der Haushalte von 10% des verfügbaren Einkommens gefordert hatte. Sie scheitert mit 55,5% Nein- und 44,5% Ja-Stimmen.
Zugestimmt haben das Tessin und die Kantone in der Westschweiz. In der Deutschweiz fand die Vorlage einzig im Kanton Basel Stadt eine Mehrheit, einem Kanton mit notorisch hohen Krankenkassenprämien.
Ungeachtet des Resultats werden die Gesundheitskosten in der Schweiz weiter steigen. Auf 100 Milliarden Franken im Jahr 2025. Wie also geht es jetzt weiter, und was sagen die Parteien?
Nach dem Nein tritt der Gegenvorschlag in Kraft
Ganz wirkungslos bleibt die Initiative der SP nicht: Mit dem Nein zu ihrer Prämien-Entlastungs-Initiative tritt der indirekte Gegenvorschlag des Parlaments in Kraft, sofern es kein Referendum gibt.
Er verpflichtet die Kantone, mehr Geld für die Prämienverbilligung einzusetzen und ihre Beiträge in Zukunft automatisch zu erhöhen, wenn die Kosten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung steigen.
Der Bund macht das bereits heute, eine Mehrheit der Kantone aber nicht. Einzelne Kantone hatten ihre Prämienverbilligungen in den letzten Jahren sogar reduziert.
Die SP plant kantonale Initiativen
Die SP-Spitze zeigte sich enttäuscht über den Ausgang der Abstimmung, kündigte aber im selben Atemzug kantonale Initiativen an, um den Prämiendeckel zumindest in der Westschweiz und im Tessin durchzusetzen. Auch für den Kanton Basel-Stadt kündigte die Partei eine Initiative an. Und damit nicht genug, die Sozialdemokraten wollen auch die Idee einer öffentlichen Krankenkasse wieder aufs Tapet bringen, mit einer für 2025 angekündigten InitiativeExterner Link.
Parteipräsident Gerhard-Pfister nahm das Verdikt des Stimmvolks zur Vorlage der Mitte-Partei gefasst zur Kenntnis. Er sagte, das Nein sei kein Veto der Bevölkerung dagegen, das Problem der Gesundheitskosten anzugehen.
Damit ist die eigentliche Schwäche der Mitte-Initiative angesprochen. Der Dialog über das Kostenwachstum und mögliche Einsparungen muss von der Politik, den Krankenkassen und den Leistungserbringern ohnehin geführt werden, auch ohne eine in der Verfassung festgeschriebene Kostenbremse.
Das Parlament hat indes auch für die Kostenbremse-Initiative einen indirekten Gegenvorschlag beschlossen. So soll der Bundesrat nach einer Konsultation unter anderem der Kantone und Krankenkassen Kostenentwicklungs- und Qualitätsziele für die Leistungen in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung festlegen.
«Die Gegnerschaft hat den Teufel an die Wand gemalt», kommentierte SP-Nationalrätin Barbara Gysi in der obligatorischen Parteienrunde des Schweizer Fernsehens SRF das Scheitern der Prämien-Entlastungs-Initiative.
Dass die Initiative zu viele Parameter offen gelassen hatte, wies sie zurück. Gysi räumte aber ein, dass anders als bei der 13. AHV-Rente «nicht alle von der Vorlage profitiert» hätten.
FDP-Nationalrätin Regine Sauter hingegen sagte, die Bevölkerung hätte erkannt, dass «man nicht einfach etwas bestellen kann, ohne es zu bezahlen». SVP-Nationalrat Thomas de Courten fasste denselben Gedanken so: Es wären «Milliarden Franken umverteilt» worden, ohne das Problem an der Wurzel anzupacken. Auch Mitte-Nationalrat Lorenz Hess sagte: Der Mittelstand habe realisiert, dass er den Ausbau der Prämienverbilligungen via Steuern selbst finanzieren müsste.
Gysi sagte, es sei wichtig, jetzt den Gegenvorschlag des Parlaments rasch umzusetzen. Das sah SVP-Vertreter de Courten nicht anders: Vermittelt über die Kantone könne man nun dort helfen, wo es nötig sei.
Die SP gibt sich aber nicht geschlagen. Gysi wiederholte die Ankündigung ihrer Partei, in den Kantonen, in denen eine Mehrheit für die Vorlage votierte, den 10-Prozent-Deckel für die Prämien wieder aufzugreifen.
In der Diskussion über die Kostenbremse-Initiative zeigte sich Mitte-Parlamentarier Hess «erstaunt» vom Abstimmungsresultat. «Das Thema ist auf dem Sorgenbarometer weit oben.» Auch sei die Idee, die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen in ein Verhältnis zu den Löhnen zu setzten, wohl nicht verkehrt.
Hess wehrte sich gegen die Behauptung, die Initiative sei zu wenig konkret gewesen und habe keine Massnahmen genannt. Eben diese Diagnose hatte SVP-Vertreter de Courten gestellt.
Sauter fasste es positiver: Die Schweizer Bevölkerung schätze das Gesundheitssystem und wolle keine Experimente. «Es gibt Raum für Effizienzgewinne, aber man kann nicht einfach einen Deckel drauf tun.»
Gysi sagte, es hätte eine reale Angst gegeben, dass die Leistungen in der Grundversicherung ausgedünnt worden wären bei einem Ja. Hess dagegen meinte, die Gegner:innen hätten erfolgreich eine Angstkampagne betrieben.
Die Gründe für das doppelte Nein
Das Problem der hohen Gesundheitskosten ist eine Schweizer Realität und es geht nicht weg. Dass dennoch beide Prämienvorlagen klar gescheitert sind, hat eine Reihe von Gründen.
Anders als bei der 13. AHV-Rente, die im März sensationell angenommen wurde, blieb bei der Vorlage zum Ausbau der Prämienverbilligung unklar, wer davon profitiert.
Welches Versicherungsmodell der Anspruchsberechnung zugrunde liegen würde, war ebenso offen wie die Frage, was als verfügbares Einkommen gilt. Beides hätte das Parlament im Nachhinein festlegen müssen.
Die Reaktionen der Parteivertreter:innen im Video:
Die Frage, ob man persönlich von der Initiative profitieren würde, war für viele also nicht zu beantworten. Und genauso nicht, ob man zu jenen gehören würde, die den Leistungsausbau via Steuern bezahlen.
Die Kosten-Frage verfing je länger je mehr im Abstimmungskampf. Und ironischerweise machte gerade der Streit, der im Mai um die Finanzierung der 13. AHV-Rente entbrannt ist, deutlich, dass jeder Leistungsausbau bezahlt werden muss.
Im Gegensatz zur Abstimmung zur 13. AHV-Rente verlief der Meinungs-Graben diesmal nicht entlang der Generationen, sondern entlang der Regionen. In der Westschweiz und im Tessin, wo die Prämien trotz tieferer Medianlöhne höher sind, fand die Initiative der SP deutlich mehr Anklang als in der Deutschschweiz.
Die Kostenbremse-Initiative der Mitte-Partei wiederum spielte komplett in der Sphäre der Politik und erreichte die Sorgen der Bevölkerung höchstens indirekt.
Auch fehlte – selbst in den eigenen Reihen – der Glaube an die Wirkung der Vorlage. Sie hätte im Gesundheitswesen zwar eine Kostenbremse installiert, aber ohne festzulegen, wie denn das Kostenwachstum zu verhindern wäre.
Lesen Sie dazu auch unsere vertiefte Analyse.
Warum die Schweiz Reformen braucht
Die Schweiz gehört zu den Ländern der OECD, die gemessen an ihrer Wirtschaftsleistung mit am meisten Geld für die Gesundheitsversorgung aufwenden.
Und Gesundheitsökonom:innen erwarten, dass die Ausgaben wegen des Leistungsausbaus und der Alterung der Gesellschaft weiter steigen. Hält das Wirtschaftswachstum Schritt, dürfte das Gesundheitswesen für die Schweiz dennoch finanzierbar bleiben.
Die Frage der Verteilung der Kosten wird sich aber weiter akzentuieren. Aktuell tragen die Haushalte rund 60 Prozent der Gesundheitskosten, und das primär über Kopfprämien, also unabhängig vom Einkommen.
Nur etwas über 20 Prozent der Kosten trägt der Staat über verschiedene Kanäle, von der Prämienverbilligung bis zur Spitalfinanzierung. Es ist wenig im internationalen Vergleich.
Nebst der Diskussion um die Kostenverteilung müssen Parlament, Kantone, Krankenkassen und Leistungserbringer auch über mögliche Sparmassnahmen reden.
Der Föderalismus, die Spitaldichte, die ungenügende Digitalisierung, hohe Medikamentenpreise und Lobbying haben die nötige Kur für das Schweizer Gesundheitssystem bislang verhindert.
Diese Einschätzung wird in der Schweizer Parteienlandschaft breit geteilt. Auf schnelle Reformen zu hoffen, wäre dennoch naiv. Das System hat eine hohe Massenträgheit, was auch das heutige Abstimmungsresultat wieder bestätigt.
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