Wird die Schweiz zum Sicherheits-Vakuum in Europa?
Europa bereitet sich auf eine längere Konfrontation mit Russland vor. Wie bedrohlich ist dieses Szenario für die Schweiz? Worauf muss sie sich vorbereiten? Wir reden darüber in Let's Talk.
Zwei Jahre nach dem Angriff auf die Ukraine fährt Russland seine Waffenproduktion erst richtig hoch. Präsident Wladimir Putin träumt von einem russischen Grossreich. Das hat fundamentale Auswirkungen auf die Sicherheitslage in Europa. Auch die Schweiz beginnt sich dafür zu rüsten. Die Armee wird wichtiger – und sie braucht mehr Geld. Wie verteidigungsfähig ist sie?
Michael Olsansky ist Militärhistoriker an der Militär-Akademie der ETH Zürich. Er sieht das schlimmstmögliche Szenario aus heutiger Sicht in einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen der Nato und Russland. «Wenn Deutschland oder Frankreich in so einem Konflikt zur Kriegspartei mit Russland wird, was heisst das für die Schweiz?», fragt er.
«Frieden ist nicht naturgegeben»
Am meisten fürchtet der Militärhistoriker, dass so eine Konfrontation zu einer Aufsplitterung des stabilen sicherheitspolitischen Gürtels um die Schweiz führen könnte. «Nur schon ein partieller Rückzug der USA aus der Nato würde das befeuern», sagt er.
Für Elisa Cadelli zeigt ein solches Szenario «wie viel man machen muss, um den Frieden herzustellen». Dieser sei nicht einfach naturgegeben. Cadelli ist Präsidentin der aussenpolitischen Denkfabrik Foraus. 2022 lebte sie einige Monate in Polen. Russland sei noch immer die grosse Frage und die grosse Sorge für die Polen, sagt Cadelli dazu.
Tatsächlich sagte Polens Premier Donald Tusk vor kurzem in einem Interview: «Ich weiss, es klingt niederschmetternd, vor allem für die jüngere Generation, aber wir müssen uns daran gewöhnen, dass eine neue Ära begonnen hat: die Vorkriegszeit.»
«Eine neue Ära: die Vorkriegszeit»
«Tusk ist ein Realist, der nichts mehr ausschliessen möchte», sagt Michael Olsansky dazu, «und ich glaube, er tut gut daran.»
Osteuropa, Zürich und Bern, das sei der gleiche geostrategische Raum, doch die Leute dort seien besorgter, sagt Olsansky mit Blick auf Prag. Das bestätigt Auslandschweizer Christof Broger, der seit seiner Pension dort lebt. «Die Leute haben Angst, man spürt dies.»
Auslandschweizer Stefan Kuhl, der nach Tallinn in Estland ausgewandert ist, erzählt von seiner Reaktion, als Russland im Februar 2022 die Ukraine überfallen hatte. Er habe sich überlegt, mit seiner Familie in die Schweiz zu fahren, «um in Sicherheit zu sein.»
«Finanzpolitisch ist nicht alles möglich»
Elisa Cadelli zieht zu zwei Jahren Krieg in Europa Bilanz. Sie habe zunächst gestaunt, wie konventionell sich der Krieg gegen die Ukraine präsentiert habe – mit Soldaten und Munition. «Die Schweiz muss dennoch längerfristig denken und sich überlegen, wie sich die Kriegsführung verändern wird und wie die Schweiz einen Beitrag leisten kann», sagt sie. Einen solchen sieht sie in der Friedensförderung und Mediation.
Zu Wort kommen in «Let’s Talk» auch zwei Mitglieder des Nationalrat. Priska Seiler Graf von der SP ist Präsidentin der Sicherheitspolitischen Kommission, sie sagt: «Man muss die Armee jetzt nach dem realistischsten Szenario ausrichten, denn finanzpolitisch ist nicht alles möglich.»
«In Krisen schaut zuerst jeder für sich»
SVP-Nationalrat Thomas Hurter sagt, die Problematik sei, dass die Armee in den letzten Jahren falsch ausgerichtet worden ist, auf Friedensförderung und subsidiäre Einsätze. «Leider hat man mit dem Krieg festgestellt, dass die Armee einen Verteidigungsauftrag hat.» Denn in Krisen schaue jedes Land zuerst einmal für sich selbst.
Zum Zustand der Schweizer Armee sagt Militärhistoriker Olsansky: «Der Friedensbetrieb geht gut, ja.» Aber wenn die Schweiz mit einem gewalttätigeren oder sogar kriegerischen Szenario konfrontiert würde, sei sie darauf kaum vorbereitet und dafür schlecht ausgerüstet.
Über die EU sagt Elisa Cadelli: «Sie sind aufgewacht. Man hört von Seiten der EU, dass sie es sehr ernst nehmen, um irgendwie vorbereitet zu sein für diverse Szenarien.»
Und was ist mit der Nato? Eine Mehrheit der Schweizer Bevölkerung wünscht sich inzwischen eine engere Zusammenarbeit mit der Nato. Elisa Cadelli sagt zur Erwartungshaltung der Nato an die Schweiz. «Sie will, dass wir im Operationsraum, in dem wir uns befinden, also mittendrin, kein Vakuum darstellen.»
Zudem nehme die Nato die Schweiz sehr ernst im Bereich Forschung und Innovation. Darüberhinaus seien auch friedensstiftende Initiativen ein Mittel der Schweizer Sicherheitspolitik, da diese von der Nato ebenfalls sehr geschätzt würden.
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch