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Schweiz-Türkei: Vom Knatsch zur Liebesbeziehung

Weisses Kreuz und weisser Halbmond auf Rot: Eine Hassliebe? Keystone

2005 waren die Beziehungen zwischen der Schweiz und der Türkei wegen der Menschenrechts- und Armenier-Frage auf dem Tiefpunkt. 2008 wird das Land plötzlich zum Mekka von Schweizer Regierungsmitgliedern. Wieso diese Wende?

Aussenministerin Micheline Calmy-Rey war Ende Oktober zu Besuch in der Türkei, Bundespräsident Pascal Couchepin Mitte November, jetzt Wirtschaftsministerin Doris Leuthard und Ende Jahr noch Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf. Vier Regierungsmitglieder im selben Jahr in der Türkei. Dem war nicht immer so.

2003 hatte das Waadtländer Kantonsparlament (später auch Genf und der Nationalrat) entschieden, die Tötung von mehr als 1,5 Millionen Armeniern im Osmanischen Reich – dem Vorläufer der heutigen Türkei – zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Genozid anzuerkennen. Darauf zog Ankara eine Einladung an die Schweizer Aussenministerin zurück. Der Besuch Calmy-Reys in der Türkei fand erst im März 2005 statt.

Ebenfalls ausgeladen wurde Wirtschaftsminister Joseph Deiss. Sein für September 2005 geplanter Besuch wurde von der Türkei abgesagt. Vorher war in der Schweiz ein Verfahren gegen einen türkischen Politiker und einen türkischen Historiker wegen öffentlichen Leugnens des türkischen Völkermordes an den Armeniern eröffnet worden.

Aber nicht nur die Armenier-Frage sei ein grosser Dorn in den Beziehungen zwischen den beiden Ländern gewesen, erklärt Amalia van Gent, Türkei-Expertin und Korrespondentin der Neuen Zürcher Zeitung. «Auch die Kurden-Frage war ein Dorn», sagt sie gegenüber swissinfo. «Frau Calmy-Rey hatte sich 2003 offenbar sehr kurdenfreundlich gezeigt.»

Die Wende kam mit Blocher

Dann kam die Wende. «Herr Blocher war 2006 da und hat in diesen beiden Fragen Verständnis für die Türkei gezeigt», sagt van Gent. Blocher kritisierte die Schweizer Antirassismus-Strafnorm, deretwegen zwei Türken in der Schweiz wegen ihrer Leugnung des Genozids angeklagt waren.

Während seine Aussage bei den türkischen Gastgebern Freude hervorrief, wurde sie in der Schweiz harsch kritisiert. Der Bundesrat bedauerte, dass Justizminister Blocher die Diskussion über die Antirassismus-Strafnorm in Ankara, also im Ausland, lanciert hatte.

Insgesamt sei sein Besuch in der Türkei ein «gewaltiger Schritt» in Richtung Verbesserung der angespannten Beziehungen zwischen den beiden Ländern gewesen, sagte Blocher damals.

Das Tauwetter geht weiter

Am Rande des Weltwirtschaftsforums in diesem Herbst in Istanbul traf sich Aussenministerin Calmy-Rey zu bilateralen Gesprächen mit ihrem türkischen Amtskollegen Ali Babacan.

Kurz vor Pascal Couchepins Türkei-Besuch Mitte November beschloss der Bundesrat, die Aktivitäten der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) einzuschränken. Für diesen Schritt dankten Premierminister Erdogan und Präsident Gül dem Schweizer Bundespräsidenten bei ihren Treffen mit ihm in der Türkei.

«Auch Herr Couchepin hat in der Armenier-Frage die Position der Türkei gestärkt, wonach Historiker entscheiden sollen, ob die tragischen Ereignisse aus dem Jahr 1915 als Genozid bezeichnet werden dürfen oder nicht. Für die Armenier ist das aber eine politische Frage und weniger eine Frage der Geschichte», so van Gent.

Wirtschaftliche Interessen

Die Schweiz habe in der Türkei prioritär wirtschaftliche Interessen, sagt die NZZ-Korrespondentin. «Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wird die Türkei von westeuropäischen Ländern als Brücke für Industrie-Exporte nach Zentralasien oder in den Nahen Osten angesehen. «Das gilt vor allem auch für die Schweizer Pharma-Industrie.»

Dann werde die Türkei als Korridor für Erdgas- und Erdölrouten von Zentralasien nach Westeuropa betrachtet. «Eine Pipeline ist schon gebaut, und jetzt soll es noch eine zweite aus Iran via Türkei nach Westeuropa geben, an der die Schweiz interessiert ist.» An dem Projekt der Trans Adriatic Pipeline ist die Elektrizitätsgesellschaft Laufenburg (EGL) beteiligt, die dazu im vergangenen März einen Gasvertrag mit Iran abgeschlossen hatte.

«Ferner ist da noch der Ilisu-Staudamm, ein heikles Projekt, weil die in der betroffenen Region lebenden Menschen klar dagegen sind.» Die Schweiz will den Bau, die Türkei muss aber die vereinbarten Vorgaben in Sachen Umweltauflagen und Umsiedlung der Bevölkerung erfüllen. Die Schweiz, Deutschland und Österreich hatten im Oktober erklärt, die Exportrisikogarantien für Bau-Unternehmen zurückzuziehen, falls dies nicht geschehe.

Eine Liebeserklärung

Mit dem Besuch von Bundespräsident Couchepin Mitte November erinnerte die Schweiz an den 80. Jahrestag der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Bern und Ankara. Couchepin bezeichnete die Türkei als «zentralen strategischen Partner». Seitdem er Mitglied der Schweizer Regierung sei, habe sich das «gegenseitige Misstrauen verringert» und sei jetzt «verschwunden».

Er liebe dieses Land immer mehr, erklärte der Bundespräsident vor seiner Abreise aus der Türkei. Und dies, obwohl die türkische Regierung derzeit von ihrer relativ liberalen Kurden-Politik abgekommen ist und heute wieder harte, nationalistische Töne anschlägt, wie Amalia van Gent erläutert. «Eine Verschärfung der Lage muss leider erwartet werden.»

swissinfo, Jean-Michel Berthoud

2007 exportierte die Schweiz Waren im Wert von 2,64 Mrd. Fr. in die Türkei.


Das Land ist besonders für die Schweizer Pharma-, Chemie- und Maschinen-Industrie ein interessanter Markt.


Die Importe aus der Türkei beliefen sich 2007 auf 859,3 Mio. Fr.


In der Schweiz lebten 2007 72’633 Personen aus der Türkei (Bundesamt für Migration).


Rund 1500 Schweizerinnen und Schweizer leben in der Türkei.

Zwischen 1915 bis 1917 wurden im Osmanischen Reich – dem Vorläufer der heutigen Türkei – mehr als 1,5 Millionen Armenier bei Vertreibungen getötet.

Zahlreiche Staaten, unter anderen Frankreich, USA, Russland und Italien, das Europa-Parlament sowie die grosse Mehrzahl der Historiker bezeichnen die Verbrechen als Genozid. Die Türkei lehnt die Bezeichnung Völkermord ab und spricht von tieferen Opferzahlen.

In der Schweiz haben die Kantone Waadt und Genf sowie der Nationalrat, die grosse Parlamentskammer, den Völkermord an den Armeniern anerkannt. Nicht jedoch der Bundesrat, die Schweizer Regierung, und der Ständerat, die kleine Parlamentskammer.

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