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Schweiz, Wiege des Völkerrechts

1859, Solferino beim Gardasee: 40'000 Verletzte oder Tote bleiben liegen. Und niemand kümmert sich um sie. swissinfo.ch

Die Schweiz ist in doppelter Hinsicht mit der Entstehung und Einhaltung des Völkerrechts in Kriegs- und Konfliktfällen verbunden.

Hier entstand das Internationale Komitee vom Roten Kreuz. Ausserdem ist die Schweiz Depositärstaat der Genfer Konventionen. Den Anstoss gab der Genfer Kaufmann Henry Dunant.

«Die Pferde zertreten mit ihren beschlagenen Hufen Tote und Verwundete. Einem armen Blessierten wird die Kinnlade fortgerissen, einem anderen der Kopf eingeschlagen, einem dritten, den man hätte retten können, die Brust eingedrückt…»

«Den Reitern folgt in gestrecktem Lauf bespannte Artillerie. Sie bahnt sich ihren Weg über Tote und Verwundete, die auf dem Boden liegen. Gehirn spritzt aus den zerplatzenden Köpfen, Glieder werden gebrochen und zermalmt, Körper werden zu formlosen Massen.»

Es ist der 24. Juni 1859. In Solferino, südlich des Gardasees in Italien, tobt eine grauenvolle Schlacht um die Unabhängigkeit Italiens von den Österreichern. Am Ende der Schlacht liegen 40’000 Menschen am Boden. Tot, verletzt oder verstümmelt. Sie werden einfach ihrem Schicksal überlassen.

Henry Dunant: Zufällig zugegen

Der Genfer Henry Dunant, wegen einer Geschäftsreise zufällig zugegen, verfolgt dieses grausige Treiben. Er ist schockiert und entschliesst sich spontan, zusammen mit den lokalen Behörden, Hilfe für die Verwundeten zu leisten.

Als Dunant in die Schweiz zurückkehrt, schreibt er seinen epochalen Bericht über die Erlebnisse in Solferino, aus dem das obige Zitat stammt («Eine Erinnerung an Solferino», 1862).

Er entscheidet sich vor allem, Hilfstrupps für Kriegsverwundete aufzubauen, um damit einen Beitrag für einen «menschlicheren Krieg» zu leisten. Im Jahr 1863 führen die Bemühungen Dunants, der 1901 den ersten Friedensnobelpreis erhält, zur Gründung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK). Neben ihm gibt es vier weitere Gründungsmitglieder.

Grenzen der Kriegsführung

Im Jahr darauf beruft die Schweizer Regierung eine internationale Konferenz ein. Es geht um die Grenzen der im Krieg erlaubten Methoden und die menschliche Behandlung von verwundeten Soldaten. Am 22. August 1864 wird in Genf die «Konvention, die Linderung des Loses der im Felddienste verwundeten Militärpersonen betreffend» von zunächst zwölf Staaten unterzeichnet. Es ist die erste aller Genfer Konventionen und die Gründungsurkunde aller nationalen Rot-Kreuz-Organisationen.

Ausweitung der Konvention

Auf Betreiben des IKRK und mit der Unterstützung der Schweizer Landesregierung wurden die Menschenrechtsregelungen stetig erweitert und angepasst. Heute existieren vier Genfer Konventionen und drei Zusatzprotokolle. Die Normen der Genfer Konventionen werden praktisch von allen Ländern der Erde anerkannt. Sie betreffen nicht mehr nur die Verwundeten im Krieg, sondern auch Kriegsgefangene und Zivilpersonen. «Diese Normen bedeuten für uns ein Mandat, die Kriegsopfer und ihre Würde zu schützen», sagt IKRK-Sprecher Ian Piper.

Die Aktivitäten umfassen alle Aspekte von Konflikten: Vom Schutz der Kriegsgefangenen bis zu Häftlingsbesuchen. Auch im Falle von Zivilkonflikten, Bürgerkriegen oder Naturkatastrophen kann das IKRK einschreiten. Doch der Kontrolle über die Anwendung und Beachtung der humanitären Völkerrechte sind Grenzen gesetzt. Dies zeigt die Situation im US-amerikanischen Gefängnis Guantanamo, wo rund 600 «gegnerische Kämpfer» von den USA unter Missachtung aller internationalen Gesetze gefangen gehalten werden. Im Interesse der Opfer sucht das IKRK den ständigen Kontakt zu den staatlichen Behörden. Das unterscheidet die Arbeit des IKRK von Nichtregierungsorganisationen (NGO).

Globaler Einsatz

Die Präsenz des IKRK ist ständig gewachsen. IKRK-Delegierte stossen heute bis in die äussersten Winkel der Erde vor. Auch für die mehr als 170 nationalen Rot-Kreuz-Organisationen sind jeden Tag Tausende von Freiwilligen im Einsatz, häufig unter schwierigsten Bedingungen. «Im Jahr 2005 haben die IKRK-Delegierten mehr als 570’000 Häftlinge in 80 Ländern besucht», sagt der IKRK-Sprecher. Das Budget 2006 zur Finanzierung aller Projekte beläuft sich auf eine Milliarde Franken.

Löwenanteil nach Afrika

Der Löwenanteil der IKRK-Ausgaben fliesst nach Afrika, vor allem in die krisengeschüttelte Region Darfur im Sudan. 40% des IKRK-Budgets landen im schwarzen Kontinent.

Wiederaufbau- und Trinkwasserprojekte haben 2005 zirka 20 Millionen Menschen Hilfe gebracht. Das IKRK unterstützt zudem etliche Spitäler und liefert Hilfsgüter zum Überleben an 2,2 Millionen Menschen.

swissinfo, Marzio Pescia (Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz IKRK, 1863 gegründet, ist die älteste international tätige humanitäre Organisation.

Das IKRK überwacht die Einhaltung der Menschenrechte in Konfliktfällen, die in den Genfer Konventionen festgehalten sind.

Diese Konventionen sind von allen 194 Staaten der Erde unterzeichnet worden, und die Schweiz ist Depositärstaat. Diese Universalität ist laut IKRK einmalig in der modernen Geschichte.

Die weltweiten Aktivitäten des IKRK beinhalten die Vermittlung zwischen Kriegsparteien, die Pflege von Verwundeten, den Besuch von Kriegsgefangenen und politischen Häftlingen, die Wiederherstellung des Kontakts zu Angehörigen, den Schutz der Zivilbevölkerung, die Versorgung mit Nahrungsmitteln und weitere Formen der Unterstützung von Konfliktopfern.

Die nationalen Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften unterstützen das IKRK mit Geldmitteln, Hilfsgütern und Delegierten. Im Ausland kooperieren die nationalen Rotkreuz-Gesellschaften mit dem IKRK.

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