schweizer diplomatie ist erwacht

In zehn Jahren hat sich die Schweizer Aussenpolitik von der Neutralität und dem Anbieten der Guten Dienste zu einer stärkeren und sichtbareren Präsenz auf dem internationalen Parkett gemausert.
Seit dem UNO-Beitritt richtet das Land seine Diplomatie auf den Multilateralismus aus. Mit Erfolg.
Während mehr als einem Jahrhundert war Schweizer Diplomatie mit Guten Diensten gleichzusetzen. Seit 1864, dem Geburtsjahr des Roten Kreuzes, ist insbesondere Genf Standort vieler internationaler Konferenzen.
1954 wird das Schicksal Indochinas festgelegt. 1962 werden die Verträge, welche die Unabhängigkeit Algeriens besiegelt, unterzeichnet. Dies geschieht zwar in Evian, auf der französischen Seite des Genfersees, die Gespräche aber werden am Schweizer Ufer geführt.
Botschaften als Vermittler
Genf ist auch Schauplatz der Abrüstungsverhandlungen. Und 1985 wird wegen des Gipfels
Reagan-Gorbatschow zum symbolträchtigen Jahr für das Ende des Kalten Krieges.
Gute Dienste werden auch im Ausland geleistet. Ab dem deutsch-französischen Krieg von 1879 hat die Schweiz sich darauf spezialisiert, die Interessen von Ländern zu vertreten, die nicht direkt miteinander sprechen wollen. So wird den USA 1945 das Kapitulationsangebot Japans von der helvetischen Diplomatie überbracht.
«Lange Zeit machte die Liste der Länder, deren Interessen die Schweiz vertrat, den Hauptteil des Aussenpolitischen Jahresberichts der Regierung aus», erinnert sich Yves Besson, Professor für internationale Beziehungen und
früherer Direktor der UNO-Agentur für die Palästina-Flüchtlinge in Jerusalem.
«Manchmal gab es politische Inhalte, so zu Kuba oder auch zum Iran zur Zeit der Geiselnahme in der US-Botschaft. Aber meist beschränkte man sich darauf, die Aufgaben eines Konsulats zu erfüllen», erzählt der Mann, der auch zehn Jahre im Dienst der Schweizer Diplomatie gestanden hat.
Die Wende
Alles ändert sich in den 1990er-Jahren. Obwohl die Stimmberechtigten 1986 den Beitritt zur UNO ablehnen, ist die Regierung entschlossen, die Schweiz in die Vereinten Nationen zu führen.
1993 befasst sich der Aussenpolitische Bericht auch mit dem Frieden, den Menschenrechten, der allgemeinen Wohlfahrt und der Umwelt, obwohl natürlich die Wahrung der nationalen Interessen weiterhin an der Spitze der Prioritäten steht.
Vor allem aber ist die Neutralität nicht mehr Eckstein der Aussenpolitik. Von jetzt an setzt man auf «Internationale Kooperation und gemeinsame Beschlüsse».
«Die Schweizer Diplomatie musste sich an multilaterale Verhandlungen gewöhnen», erklärt Besson. «In Wirtschaft und Handel waren sie immer ausgezeichnet, aber in der Politik mussten sie praktisch alles von Grund auf lernen. Und sie lernten
sehr schnell.» Es ist die Zeit der Missionen von Edouard Brunner im Nahen Osten und später in Georgien sowie von Tim Guldimann in Tschetschenien. Die Schweizer Diplomatie wird sichtbar.
1998, kurz vor der Bombardierung Belgrads durch die Alliierten unter Führung der USA, weigert sich Bern, dort die Interessen Grossbritanniens und Deutschlands zu vertreten. Die Schweiz hat soeben die Missetaten der Serben im Kosovo scharf verurteilt und kann ihre Meinung nicht ändern.
Öffentliche Diplomatie
Im Jahr 2000 veröffentlicht die Regierung ihren neuen Aussenpolitischen Bericht. «Oberste Ziel» bleiben «die Unabhängigkeit
und der Wohlstand der Schweiz», doch diese muss sich auch «auf ethische Prinzipien» ausrichten.
Und der Text bekräftigt – stärker als jener von 1993 – die Notwendigkeit von Armutsbekämpfung, Friedenförderung, Verteidigung der Menschenrechte und Schutz der natürlichen Ressourcen.
Zwei Jahre später tritt die Schweiz nach einer weiteren Volksabstimmung der UNO bei, und 2003 führt Micheline Calmy-Rey ihre «öffentliche Diplomatie» ein. Ein guter Aussenminister ist nicht mehr jener, der «in allen vier Landessprachen schweigen kann».
Kaum im Amt, verlangt sie am Forum von Davos ein Treffen mit
US-Aussenminister Colin Powell, dessen Land die Invasion des Irak vorbereitet. Angesichts der US-Weigerung, «Verhandlungen über eine letzte Chance» zu führen, beruft die Schweiz eine humanitäre Konferenz ein, die versuchen soll, den Kriegsschock zu mildern.
Ohne Bedauern
Heute ist die Schweiz nicht mehr Weltmeisterin der Guten Dienste. In diesem Bereich kann ein Land wie Norwegen – nicht neutral und Mitglied der NATO – bessere Resultate aufweisen.
Was Yves Besson nicht bedauert. «Oft beschränkten sich die Guten Dienste auf die Rolle eines Hoteliers», meint der frühere Diplomat unverblümt. Für ihn ist
die in den letzten Jahren geleistete Arbeit «bei weitem aktiver, schwieriger und einträglicher».
Und er nennt als Beispiel die Verhandlungen zur Schaffung eines Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen. «Hier befinden wir uns auf einer ganz anderen Ebene», findet Besson. «Das ist wirklich multilaterale Diplomatie.»
swissinfo, Marc-André Miserez (Übertragung aus dem Französischen: Charlotte Egger)
Das Departement (Ministerium) für auswärtige Angelegenheiten (EDA) verfügt über ein Jahresbudget von knapp 2 Mrd. Schweizer Franken, wovon 1,3 Mrd. in die Entwicklungszusammenarbeit fliessen.
Das EDA beschäftigt rund 3150 Personen, davon nahezu 2000 in den diplomatischen und konsularischen Vertretungen, welche die Schweiz in 193 Ländern der Welt unterhält.
171 Länder haben eine Botschaft oder ein Konsulat in der Schweiz.
Bis zu Beginn der 1990er-Jahre war die Schweizer Diplomatie auf die Guten Dienste ausgerichtet: Auf die Kunst, zwei Konfliktparteien zu Verhandlungen zu bringen, ohne selber daran teilzunehmen.
Es gibt kein Exklusivrecht auf Gute Dienste. Nicht nur Staaten, auch internationale Organisationen oder Privatpersonen können sie anbieten.
In Genf wird das Institut Henry Dunant (Ausbildungs- und Forschungszentrum des Roten Kreuzes) 1999 zum Zentrum für humanitären Dialog (HDC), das sich auf Gute Dienste spezialisiert.
Seine Experten handelten insbesondere 2002 die Waffenruhe zwischen Indonesien und den Rebellen von Aceh sowie 2004 ein Abkommen zu Darfur aus.
Genf ist seit 1994 auch Sitz von WSP International (einem Projekt für vom Krieg zerrissene Gesellschaften), das Versöhnungsprogramme in früheren Konfliktregionen durchführt.
Obwohl private Organisationen, werden sie von der Schweiz finanziell unterstützt.

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