Schweizer Kühe zu sexy für die Chinesen?
Die chinesischen Behörden haben die Installierung eines Filterprogramms gegen Pornographieseiten im Internet verschoben. Ein Etappensieg auf dem Weg zu Meinungsfreiheit im Reich der Mitte?
Dessous von Calida – Site blockiert. swissinfo.ch – Text only. Der Internetauftritt von Schweiz Tourismus auf Chinesisch: von sechs Bildern wird nur eines angezeigt. Zu sexy sind wohl der Aletschgletscher, die Kühe des Simmentals, die Rhätische Bahn.
Die Zensur im Namen der guten Sitten soll eine Software mit Namen «Green Dam» ausführen. Dieser «Grüne Damm» verurteilt aber den Computer zu einer Suche ohne gutes Ende, gepaart mit einer nervenbelastend langsamen Navigation. Aber nicht nur das: Der Filter verursacht schwere Fehler und vervielfacht die Anfälligkeit des Computers für Viren oder Spionage-Programme.
Am Ziel vorbei
Harmlose Seiten wie Calida oder Schweiz Tourismus sperrt «Green Dam». Aber nach wie vor können sich chinesische Internetbenutzer durch zahlreiche Seiten mit harter Pornographie klicken…
Ausgerechnet eine solche Software will die chinesische Zentralbehörde auf allen Computern installieren lassen, die ab 1. Juli in China verkauft werden. Kein Wunder, dass es Proteste gegen das Vorhaben hagelte. Diese kamen nicht nur aus China selbst, wo 80 Prozent der Internetbenutzerinnen und -benutzer aufbegehrten.
Auch die USA, die EU, die Welthandelsorganisation (WTO) sowie zahlreiche Handeslkammern kritisierten Peking. Das kalifornische Unternehmen Solid Oak klagte die chinesische Regierung gar wegen Verletzung von Urheberrechten ein.
Schweizer Zurückhaltung
Kein Widerspruch dagegen regte sich von Schweizer Seite. Weder die Schweizer Botschaft in Peking noch eine andere offizielle Instanz meldeten sich zu Wort. Es liege nicht in der Tradition der Schweiz, sich zu solchen Angelegenheiten zu äussern, so der Kommentar aus der Schweizer Vertretung im Reich der Mitte.
Anders bei Schweiz Tourismus. Die Einschränkung stellt die Bundes-Agentur, die als Vermarkterin des Tourismuslandes Schweiz stark auf den wachsenden chinesischen Markt setzt, vor grosse Probleme. Man prüfe die Auswirkungen der möglichen Zensur, sagte Véronique Kanel, Sprecherin von Schweiz Tourismus. Gleichzeitig zeigte sie sich überzeugt, dass eine Lösung gefunden werden könne.
Kehrtwende?
Im letzten Moment haben nun die Behörden die Zensur abgeblasen. Offizielle Begründung: Computerhersteller hätten eine Nachfrist verlangt, um die Software auf den Geräten installieren zu können.
Wie dem auch sei: Der Rückzug zeigt, dass die öffentliche Meinung in China immer schwerer wiegt. Und dass die Vorherrschaft der Zentralbehörde immer mehr in Frage gestellt wird.
Politik im Visier
Green Dam blockiere in erster Linie Seiten mit politischen, nicht pornographischen Inhalten, sagt Li Fangping, Anwalt in Peking. Dies deshalb, weil das Internet eine Plattform sei, auf der immer mehr chinesische Bürger ihre politische Meinung ausdrücken könnten, um Druck für Reformen zu machen, so der Menschenrechtler.
«Für eine despotische Partei ist das Internet eine fatale Herausforderung!» Das sagt Zhang Boshu, Professor für politische Philosophie an der Akademie für Soziale Wissenschaften Peking und Unterzeichner der Charta 08. Er kommuniziert ausschliesslich via Internet.
Unfreiwillig, denn seine Schriften kann er in China nicht mehr publizieren, in offiziellen Medien ist seine Meinung nicht mehr gefragt. «Es ist eine Revoution, welche die Mächtigen nicht mehr stoppen können. Das war vor ein paar Jahren noch unvorstellbar», kommentiert Zhang Boshu die Netz-Plattform.
Hase und Igel
Die chinesischen Internauten sind den Behörden immer eine Länge voraus. «Wenn jemand will, kann er oder sie die Hürden überwinden», bestätigt der Blogger Jason NG. «Sie verfügen über die Werkzeuge, um an sensible Daten heranzukommen, Green Dam hin oder her.»
Das Abblasen der Blockade auf 1. Juli lässt Jason NG frohlocken: «Dies ist ein Sieg der öffentlichen Meinung, Green Dam wird sehr rasch vergessen sein… Entgegen anderslautenden Meinungen haben wir eine gute Regierung, die auf ihre Bürger hört.»
Die Nachricht dürfte auch Calida, Schweiz Tourismus und andere freuen. So können sich lüsterne Chinesen vorderhand weiter an Schweizer Kühen, spitzen Bergen und langen Gletschern sattsehen.
Alain Arnaud, swissinfo.ch, Peking
(Übertragung aus dem Französischen: Renat Künzi)
Seit 2004 benötigen die Chinesen keine offizielle Sondererlaubnis mehr zur Einreise in die Schweiz. Pro Jahr gehen rund 200’000 Übernachtungen auf den chinesischen Markt, was einen Anteil von nur einem Prozent ausmacht. Das Potenzial ist jedoch enorm.
Mit 430 Franken belegen die Chinesen aber Platz zwei, was die Tagesausgaben in der Schweiz betrifft. Mehr Geld lassen nur die Bürger aus den Staaten am Arabischen Golf liegen.
Weniger als 100 Tage vor dem 60. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik China am 1. Oktober zeigen die Behörden eine selten gezeigte Nervosität.
Davon zeugen Zensur im Internet, Blockierung von Google, der Versuch zur Installierung einer Spionage-Software in jedem verkauften Computer, Anstellung von 10’000 zusätzlichen Freiwilligen zur Überwachung des Internets.
Weitere Ereignisse im Zusammenhang: Verhaftung des Dissidenten Lu Xiaobo, Restriktionen in der Erteilung von Visa sowie Aufstellen eines beispiellosen Sicherheitsdispositivs.
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